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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Romantische Verführungen -- Verstand und Erfahrung.
die ersten Bedürfnisse staubfreie Waldluft, Schattenwege,
nahrhafte verdauliche Kost, und geht in der Schätzung der
Einzelheiten nach den Erfordernissen seiner Nerven,
seiner Lunge, seiner Augen, wenn diese leiden, nicht nach
deren Wohlgefallen zu Werke. Ein majestätisches
Bergpanorama, ein weiter Wasserspiegel, großartige Felsen-
partien, Cascaden, alles das sind herrliche Dinge, auch treff-
liche Nahrungsmittel für die Phantasie, der Verstand jedoch,
der bekannte nüchterne Magister, hinter sich die Erfahrung,
seine alte Haushälterin mit der großen Hornbrille und dem
dicken Schlüsselbunde, docirt, daß primo loco ganz andere
Dinge gehören. In seiner nörgelnden Weise schilt er über
die Romantiker, die sich von einem Anblick, der so bald den
Reiz der Neuheit verliert, verführen lassen; schilt über die
Ideologen, die von "prachtvollen" Weinbergen schwär-
men, weil die Einbildungskraft dieser Ritter vom blauen
Dunste den Wohlgeschmack und die anregende Wirkung des
Weins unbewußt der landschaftlichen Glorie der Oertlichkeit
zu Gute rechnet, während der Weinberg doch nur ein paar
Monate im Jahre erfreulich, die übrige Zeit mit seinen
Pfählen und seinem verschnittenen kahlen oder trocken be-
laubten Krummholz unschön aussieht -- so sehr geneigt auch
nordische straßenmüde Großstädteraugen sind, Rebstöcke unter
die ländlichen Schönheiten zu rechnen, ebenso wie Obstbäume
und Getreidefelder; daß ferner Weinlage nie eine "froh-
müthige" Villeggiatur abgeben kann und die hohen Mauern
(schrecklichen Andenkens!), welche die Wege einfassen, nur be-
stimmt scheinen, den aufwirbelnben Staub gehörig zusammen
zu halten, jeden Lufthauch abzuwehren und die Aussicht zu
sperren. --

Noch häufiger als durch Wahl eines unpassenden Auf-
enthaltsorts wird ein anderer Fehler begangen, und zwar
von Solchen, denen die bloße Reise zur Heilung dienen soll:
sie wenden eine zu starke Dosis des an sich vortrefflichen Mit-
tels an, bringen sich dadurch um den gehofften Erfolg und

V. Romantiſche Verführungen — Verſtand und Erfahrung.
die erſten Bedürfniſſe ſtaubfreie Waldluft, Schattenwege,
nahrhafte verdauliche Koſt, und geht in der Schätzung der
Einzelheiten nach den Erforderniſſen ſeiner Nerven,
ſeiner Lunge, ſeiner Augen, wenn dieſe leiden, nicht nach
deren Wohlgefallen zu Werke. Ein majeſtätiſches
Bergpanorama, ein weiter Waſſerſpiegel, großartige Felſen-
partien, Cascaden, alles das ſind herrliche Dinge, auch treff-
liche Nahrungsmittel für die Phantaſie, der Verſtand jedoch,
der bekannte nüchterne Magiſter, hinter ſich die Erfahrung,
ſeine alte Haushälterin mit der großen Hornbrille und dem
dicken Schlüſſelbunde, docirt, daß primo loco ganz andere
Dinge gehören. In ſeiner nörgelnden Weiſe ſchilt er über
die Romantiker, die ſich von einem Anblick, der ſo bald den
Reiz der Neuheit verliert, verführen laſſen; ſchilt über die
Ideologen, die von „prachtvollen“ Weinbergen ſchwär-
men, weil die Einbildungskraft dieſer Ritter vom blauen
Dunſte den Wohlgeſchmack und die anregende Wirkung des
Weins unbewußt der landſchaftlichen Glorie der Oertlichkeit
zu Gute rechnet, während der Weinberg doch nur ein paar
Monate im Jahre erfreulich, die übrige Zeit mit ſeinen
Pfählen und ſeinem verſchnittenen kahlen oder trocken be-
laubten Krummholz unſchön ausſieht — ſo ſehr geneigt auch
nordiſche ſtraßenmüde Großſtädteraugen ſind, Rebſtöcke unter
die ländlichen Schönheiten zu rechnen, ebenſo wie Obſtbäume
und Getreidefelder; daß ferner Weinlage nie eine „froh-
müthige“ Villeggiatur abgeben kann und die hohen Mauern
(ſchrecklichen Andenkens!), welche die Wege einfaſſen, nur be-
ſtimmt ſcheinen, den aufwirbelnben Staub gehörig zuſammen
zu halten, jeden Lufthauch abzuwehren und die Ausſicht zu
ſperren. —

Noch häufiger als durch Wahl eines unpaſſenden Auf-
enthaltsorts wird ein anderer Fehler begangen, und zwar
von Solchen, denen die bloße Reiſe zur Heilung dienen ſoll:
ſie wenden eine zu ſtarke Doſis des an ſich vortrefflichen Mit-
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[126/0140] V. Romantiſche Verführungen — Verſtand und Erfahrung. die erſten Bedürfniſſe ſtaubfreie Waldluft, Schattenwege, nahrhafte verdauliche Koſt, und geht in der Schätzung der Einzelheiten nach den Erforderniſſen ſeiner Nerven, ſeiner Lunge, ſeiner Augen, wenn dieſe leiden, nicht nach deren Wohlgefallen zu Werke. Ein majeſtätiſches Bergpanorama, ein weiter Waſſerſpiegel, großartige Felſen- partien, Cascaden, alles das ſind herrliche Dinge, auch treff- liche Nahrungsmittel für die Phantaſie, der Verſtand jedoch, der bekannte nüchterne Magiſter, hinter ſich die Erfahrung, ſeine alte Haushälterin mit der großen Hornbrille und dem dicken Schlüſſelbunde, docirt, daß primo loco ganz andere Dinge gehören. In ſeiner nörgelnden Weiſe ſchilt er über die Romantiker, die ſich von einem Anblick, der ſo bald den Reiz der Neuheit verliert, verführen laſſen; ſchilt über die Ideologen, die von „prachtvollen“ Weinbergen ſchwär- men, weil die Einbildungskraft dieſer Ritter vom blauen Dunſte den Wohlgeſchmack und die anregende Wirkung des Weins unbewußt der landſchaftlichen Glorie der Oertlichkeit zu Gute rechnet, während der Weinberg doch nur ein paar Monate im Jahre erfreulich, die übrige Zeit mit ſeinen Pfählen und ſeinem verſchnittenen kahlen oder trocken be- laubten Krummholz unſchön ausſieht — ſo ſehr geneigt auch nordiſche ſtraßenmüde Großſtädteraugen ſind, Rebſtöcke unter die ländlichen Schönheiten zu rechnen, ebenſo wie Obſtbäume und Getreidefelder; daß ferner Weinlage nie eine „froh- müthige“ Villeggiatur abgeben kann und die hohen Mauern (ſchrecklichen Andenkens!), welche die Wege einfaſſen, nur be- ſtimmt ſcheinen, den aufwirbelnben Staub gehörig zuſammen zu halten, jeden Lufthauch abzuwehren und die Ausſicht zu ſperren. — Noch häufiger als durch Wahl eines unpaſſenden Auf- enthaltsorts wird ein anderer Fehler begangen, und zwar von Solchen, denen die bloße Reiſe zur Heilung dienen ſoll: ſie wenden eine zu ſtarke Doſis des an ſich vortrefflichen Mit- tels an, bringen ſich dadurch um den gehofften Erfolg und

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 126. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/140>, abgerufen am 24.11.2024.