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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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V. Culturgeschichtliches -- Sommerfrischen.

Die vorangegangenen Betrachtungen hatten mehr Plätze
im Auge, die schon seit geraumer Zeit alle Sommer eine
größere Anzahl Heilungsuchender beherbergen, deren Wünsche
zu erforschen und zu befriedigen einer Behörde oder einem
Vereine obliegt. An diese größeren, bekannteren reihen sich
alljährlich neue in den verschiedensten Stadien der Entwicke-
lung. Kein Wunder! -- Der Drang, Athem zu schöpfen,
wird mächtiger und allgemeiner, die Städte werden größer,
volkreicher, ihre Häuser sind in Großstädten schon zu vier-
stöckigen Miethscasernen emporgewachsen, die wenigen von der
Axt verschonten Bäume innerhalb der Stadt kränkeln und ster-
ben an Blutvergiftung und Markvertrocknung; Staub, Schorn-
steinrauch, Ammoniak, Kohlensäure, Schwefel- und Phosphor-
wasserstoff, Leuchtgas, Petroldünste und andre tückische Gase
erfüllen Alles rings umher und -- die Eisenbahnhöfe an
Sommersonntagen erzählen davon -- expediren oder vielmehr
explodiren die halberstickten Menschen hinaus auf's Land.
Zum abnehmenden Wohlbefinden kommen zunehmender Wohl-
stand, Raschheit und Billigkeit des Transports und steigern
den centrifugalen Drang. So entstehen immer neue "Som-
merfrischen
". Der hübsche Name ist Erfindung eines
Landes, das sich sonst nicht durch Erfindungsgeist aus-
zeichnet, Tirols.

Die Entstehungsgeschichte einer solchen Sommerfrische ist
etwa die folgende. Zuerst entdeckt ein Maler, welche Fülle
von landschaftlichen Reizen ein entlegenes Thal birgt, hört
in der Schenke des nächsten Dörfleins, daß daselbst vor ihm
schon ein angelnder Engländer verweilt hat, und wird dessen
Zimmernachfolger. Dieser erste Pionier der Cultur hat am
Fensterkreuz einen Nagel für seinen Rasierspiegel eingeschlagen,
sonst ist Alles noch auf der Stufe, die unmittelbar nach der
Pfahlbautenperiode eingetreten sein mag und sich seitdem,
eine Fundgrube für Alterthumsforscher, unversehrt erhalten
hat. Auch die Bewohner sind völlig "frei von Bildung",
ein körperlich und geistig unbeholfenes, aber gutmüthiges,

V. Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen.

Die vorangegangenen Betrachtungen hatten mehr Plätze
im Auge, die ſchon ſeit geraumer Zeit alle Sommer eine
größere Anzahl Heilungſuchender beherbergen, deren Wünſche
zu erforſchen und zu befriedigen einer Behörde oder einem
Vereine obliegt. An dieſe größeren, bekannteren reihen ſich
alljährlich neue in den verſchiedenſten Stadien der Entwicke-
lung. Kein Wunder! — Der Drang, Athem zu ſchöpfen,
wird mächtiger und allgemeiner, die Städte werden größer,
volkreicher, ihre Häuſer ſind in Großſtädten ſchon zu vier-
ſtöckigen Miethscaſernen emporgewachſen, die wenigen von der
Axt verſchonten Bäume innerhalb der Stadt kränkeln und ſter-
ben an Blutvergiftung und Markvertrocknung; Staub, Schorn-
ſteinrauch, Ammoniak, Kohlenſäure, Schwefel- und Phosphor-
waſſerſtoff, Leuchtgas, Petroldünſte und andre tückiſche Gaſe
erfüllen Alles rings umher und — die Eiſenbahnhöfe an
Sommerſonntagen erzählen davon — expediren oder vielmehr
explodiren die halberſtickten Menſchen hinaus auf’s Land.
Zum abnehmenden Wohlbefinden kommen zunehmender Wohl-
ſtand, Raſchheit und Billigkeit des Transports und ſteigern
den centrifugalen Drang. So entſtehen immer neue „Som-
merfriſchen
“. Der hübſche Name iſt Erfindung eines
Landes, das ſich ſonſt nicht durch Erfindungsgeiſt aus-
zeichnet, Tirols.

Die Entſtehungsgeſchichte einer ſolchen Sommerfriſche iſt
etwa die folgende. Zuerſt entdeckt ein Maler, welche Fülle
von landſchaftlichen Reizen ein entlegenes Thal birgt, hört
in der Schenke des nächſten Dörfleins, daß daſelbſt vor ihm
ſchon ein angelnder Engländer verweilt hat, und wird deſſen
Zimmernachfolger. Dieſer erſte Pionier der Cultur hat am
Fenſterkreuz einen Nagel für ſeinen Raſierſpiegel eingeſchlagen,
ſonſt iſt Alles noch auf der Stufe, die unmittelbar nach der
Pfahlbautenperiode eingetreten ſein mag und ſich ſeitdem,
eine Fundgrube für Alterthumsforſcher, unverſehrt erhalten
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ein körperlich und geiſtig unbeholfenes, aber gutmüthiges,

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[108/0122] V. Culturgeſchichtliches — Sommerfriſchen. Die vorangegangenen Betrachtungen hatten mehr Plätze im Auge, die ſchon ſeit geraumer Zeit alle Sommer eine größere Anzahl Heilungſuchender beherbergen, deren Wünſche zu erforſchen und zu befriedigen einer Behörde oder einem Vereine obliegt. An dieſe größeren, bekannteren reihen ſich alljährlich neue in den verſchiedenſten Stadien der Entwicke- lung. Kein Wunder! — Der Drang, Athem zu ſchöpfen, wird mächtiger und allgemeiner, die Städte werden größer, volkreicher, ihre Häuſer ſind in Großſtädten ſchon zu vier- ſtöckigen Miethscaſernen emporgewachſen, die wenigen von der Axt verſchonten Bäume innerhalb der Stadt kränkeln und ſter- ben an Blutvergiftung und Markvertrocknung; Staub, Schorn- ſteinrauch, Ammoniak, Kohlenſäure, Schwefel- und Phosphor- waſſerſtoff, Leuchtgas, Petroldünſte und andre tückiſche Gaſe erfüllen Alles rings umher und — die Eiſenbahnhöfe an Sommerſonntagen erzählen davon — expediren oder vielmehr explodiren die halberſtickten Menſchen hinaus auf’s Land. Zum abnehmenden Wohlbefinden kommen zunehmender Wohl- ſtand, Raſchheit und Billigkeit des Transports und ſteigern den centrifugalen Drang. So entſtehen immer neue „Som- merfriſchen“. Der hübſche Name iſt Erfindung eines Landes, das ſich ſonſt nicht durch Erfindungsgeiſt aus- zeichnet, Tirols. Die Entſtehungsgeſchichte einer ſolchen Sommerfriſche iſt etwa die folgende. Zuerſt entdeckt ein Maler, welche Fülle von landſchaftlichen Reizen ein entlegenes Thal birgt, hört in der Schenke des nächſten Dörfleins, daß daſelbſt vor ihm ſchon ein angelnder Engländer verweilt hat, und wird deſſen Zimmernachfolger. Dieſer erſte Pionier der Cultur hat am Fenſterkreuz einen Nagel für ſeinen Raſierſpiegel eingeſchlagen, ſonſt iſt Alles noch auf der Stufe, die unmittelbar nach der Pfahlbautenperiode eingetreten ſein mag und ſich ſeitdem, eine Fundgrube für Alterthumsforſcher, unverſehrt erhalten hat. Auch die Bewohner ſind völlig „frei von Bildung“, ein körperlich und geiſtig unbeholfenes, aber gutmüthiges,

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/122>, abgerufen am 25.11.2024.