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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Schroffe Uebergänge -- Aschermittwoch.
Zeichen, daß der neue Zustand nicht Genesung war, sondern
ein höherer Grad krankhafter Erregung, auf welche dann
stets eine um so heftigere Reaction folgt.

Wer eine Bade-, Trink-, Reise-, Luftcur vorhat, thut
immer wohl, sich der durch dieselbe bedingten Lebensweise
schon vorher schrittweise zu nähern. Gerade das Umgekehrte
geschieht in der Regel. Der Patient ist überzeugt, daß die
bisherigen Verstöße gegen eine vernünftige Diät -- mit
diesem Worte ist hier nicht blos Essen und Trinken gemeint --
seine Gesundheit untergraben und seine Zukunft gefährdet
hat, nichtsdestoweniger setzt er die Gewohnheit fort, steigert
sie sogar, denn das Bad macht ja doch bald alles wieder gut,
redet er sich ein. Ganz wie in alter Zeit Heiden, um ihre
Seele zu retten, den Uebertritt zum Christenthume beschlossen,
die Taufe aber verschoben, um den Becher der Lust erst noch
gründlich zu leeren. Dieselbe Anschauung finden wir noch
an anderen Stellen wieder. Oft hört man z. B. die
Aeußerung: heute kann ich mir schon etwas bieten, denn er-
kältet bin ich ohnehin dermaßen, daß es gar nicht ärger
werden kann.

-- Alles sehr menschlich, wird entgegnet, jeder Abschied
will gefeiert sein, der Abschied von alten Freunden wie von
alten Gewohnheiten, mögen diese sich auch nicht als Freunde
erwiesen haben. -- Nun meinetwegen. Nur beklagt Euch
nicht, Ihr Herren Abschiednehmer, wenn der Aschermittwoch
Euch um so schwerer fällt, je toller Ihr die Ausgelassenheit
am Faschingsdienstag getrieben; beklagt Euch nicht, wenn
Jahre, Jahrzehnde strenger Buße nicht sühnen, was Ihr
gerade dann noch sündigtet, als Ihr es schon mit Bewußtsein
der Schuld thatet.

Auch im geistigen Gebiete können Manche die schroffen
Uebergänge nicht vertragen, z. B. aus langjähriger an-
gestrengter, zerrüttender Thätigkeit in völlige Ruhe, vielmehr
gerathen sie dadurch in Grillenfängerei oder auf sonstige

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IV. Schroffe Uebergänge — Aſchermittwoch.
Zeichen, daß der neue Zuſtand nicht Geneſung war, ſondern
ein höherer Grad krankhafter Erregung, auf welche dann
ſtets eine um ſo heftigere Reaction folgt.

Wer eine Bade-, Trink-, Reiſe-, Luftcur vorhat, thut
immer wohl, ſich der durch dieſelbe bedingten Lebensweiſe
ſchon vorher ſchrittweiſe zu nähern. Gerade das Umgekehrte
geſchieht in der Regel. Der Patient iſt überzeugt, daß die
bisherigen Verſtöße gegen eine vernünftige Diät — mit
dieſem Worte iſt hier nicht blos Eſſen und Trinken gemeint —
ſeine Geſundheit untergraben und ſeine Zukunft gefährdet
hat, nichtsdeſtoweniger ſetzt er die Gewohnheit fort, ſteigert
ſie ſogar, denn das Bad macht ja doch bald alles wieder gut,
redet er ſich ein. Ganz wie in alter Zeit Heiden, um ihre
Seele zu retten, den Uebertritt zum Chriſtenthume beſchloſſen,
die Taufe aber verſchoben, um den Becher der Luſt erſt noch
gründlich zu leeren. Dieſelbe Anſchauung finden wir noch
an anderen Stellen wieder. Oft hört man z. B. die
Aeußerung: heute kann ich mir ſchon etwas bieten, denn er-
kältet bin ich ohnehin dermaßen, daß es gar nicht ärger
werden kann.

— Alles ſehr menſchlich, wird entgegnet, jeder Abſchied
will gefeiert ſein, der Abſchied von alten Freunden wie von
alten Gewohnheiten, mögen dieſe ſich auch nicht als Freunde
erwieſen haben. — Nun meinetwegen. Nur beklagt Euch
nicht, Ihr Herren Abſchiednehmer, wenn der Aſchermittwoch
Euch um ſo ſchwerer fällt, je toller Ihr die Ausgelaſſenheit
am Faſchingsdienstag getrieben; beklagt Euch nicht, wenn
Jahre, Jahrzehnde ſtrenger Buße nicht ſühnen, was Ihr
gerade dann noch ſündigtet, als Ihr es ſchon mit Bewußtſein
der Schuld thatet.

Auch im geiſtigen Gebiete können Manche die ſchroffen
Uebergänge nicht vertragen, z. B. aus langjähriger an-
geſtrengter, zerrüttender Thätigkeit in völlige Ruhe, vielmehr
gerathen ſie dadurch in Grillenfängerei oder auf ſonſtige

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[99/0113] IV. Schroffe Uebergänge — Aſchermittwoch. Zeichen, daß der neue Zuſtand nicht Geneſung war, ſondern ein höherer Grad krankhafter Erregung, auf welche dann ſtets eine um ſo heftigere Reaction folgt. Wer eine Bade-, Trink-, Reiſe-, Luftcur vorhat, thut immer wohl, ſich der durch dieſelbe bedingten Lebensweiſe ſchon vorher ſchrittweiſe zu nähern. Gerade das Umgekehrte geſchieht in der Regel. Der Patient iſt überzeugt, daß die bisherigen Verſtöße gegen eine vernünftige Diät — mit dieſem Worte iſt hier nicht blos Eſſen und Trinken gemeint — ſeine Geſundheit untergraben und ſeine Zukunft gefährdet hat, nichtsdeſtoweniger ſetzt er die Gewohnheit fort, ſteigert ſie ſogar, denn das Bad macht ja doch bald alles wieder gut, redet er ſich ein. Ganz wie in alter Zeit Heiden, um ihre Seele zu retten, den Uebertritt zum Chriſtenthume beſchloſſen, die Taufe aber verſchoben, um den Becher der Luſt erſt noch gründlich zu leeren. Dieſelbe Anſchauung finden wir noch an anderen Stellen wieder. Oft hört man z. B. die Aeußerung: heute kann ich mir ſchon etwas bieten, denn er- kältet bin ich ohnehin dermaßen, daß es gar nicht ärger werden kann. — Alles ſehr menſchlich, wird entgegnet, jeder Abſchied will gefeiert ſein, der Abſchied von alten Freunden wie von alten Gewohnheiten, mögen dieſe ſich auch nicht als Freunde erwieſen haben. — Nun meinetwegen. Nur beklagt Euch nicht, Ihr Herren Abſchiednehmer, wenn der Aſchermittwoch Euch um ſo ſchwerer fällt, je toller Ihr die Ausgelaſſenheit am Faſchingsdienstag getrieben; beklagt Euch nicht, wenn Jahre, Jahrzehnde ſtrenger Buße nicht ſühnen, was Ihr gerade dann noch ſündigtet, als Ihr es ſchon mit Bewußtſein der Schuld thatet. Auch im geiſtigen Gebiete können Manche die ſchroffen Uebergänge nicht vertragen, z. B. aus langjähriger an- geſtrengter, zerrüttender Thätigkeit in völlige Ruhe, vielmehr gerathen ſie dadurch in Grillenfängerei oder auf ſonſtige 7*

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/113>, abgerufen am 25.11.2024.