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Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869.

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IV. Hypochondrische Studien.
oder Lassen ihre Gesetze übertreten haben, Achtung vor ihnen
hingegen belohnen und so uns förmliche Anleitung ertheilen,
was ihren Zorn versöhnen kann, scheinen die Nerven, wenn
sie erst einmal aufsässig geworden, an Unbeständigkeit,
Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit und Tyrannei Alles zu
überbieten, was je den Frauen nachgesagt ward. Ihre
Orakelsprüche sind bald völlig unverständlich, bald zweideutig;
jetzt scheint ein Rath klar, lichtvoll wie die Sonne, bei seiner
Anwendung ergibt sich jedoch, daß er eitel Dunst war;
jetzt wieder bewährt sich einer eine Zeit lang scheinbar
trefflich, wir preisen ihn als treuen Diener, plötzlich findet
sich, daß der treue Diener uns schmählich bestohlen hat.
Curirt nun ein Arzt an einem solchen Patienten erfolglos
herum, so schafft dieser ihn ab, wendet sich an einen zweiten,
dritten, vierten. Hat er daheim alle namhaften Doctoren
vergebens durchconsultirt, so versucht er es in anderen
Städten, wirft sich dieser und jener neuen Methode in die
Arme. Dabei vergeht viel Zeit, und das ist der erste
Gewinn, denn, um Ihnen nun auch mit Sprüchwörtern
zu dienen, "kommt Zeit, kommt Rath", "Zeit heilt Alles".
Der zweite Gewinn ist, daß sein Grimm sich nur gegen
einen Arzt nach dem andern, zuletzt gegen alle Aerzte, also
immer nur nach außen richtet, nicht gegen sich selbst. Im
Hintergrunde seiner angstvollen Seele sitzt immer noch die
Hoffnung, die ihm Muth und Trost zuspricht. Du hast das
Deinige gethan, sagt er sich, keine Kosten, keine Mühe
gescheut, vielleicht findet sich doch noch der rechte Mann, der
Dir hilft. Denken wir uns nun aber in die Lage eines
Menschen, der seine wirkliche, oder gar seine eingebildete
Krankheit selbst curiren will, wie er aus Büchern sich Rath
holt, hin und her experimentirt, grübelt und griesgrämelt,
Tagebücher und Tabellen führt über seine täglichen Wahr-
nehmungen, Empfindungen, Leistungen und Leiden, vier
Abstufungen von Unterjacken und Ueberröcken hat u. s. w.,
so haben wir ein Stück Menschheit vor uns, das zu all

IV. Hypochondriſche Studien.
oder Laſſen ihre Geſetze übertreten haben, Achtung vor ihnen
hingegen belohnen und ſo uns förmliche Anleitung ertheilen,
was ihren Zorn verſöhnen kann, ſcheinen die Nerven, wenn
ſie erſt einmal aufſäſſig geworden, an Unbeſtändigkeit,
Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit und Tyrannei Alles zu
überbieten, was je den Frauen nachgeſagt ward. Ihre
Orakelſprüche ſind bald völlig unverſtändlich, bald zweideutig;
jetzt ſcheint ein Rath klar, lichtvoll wie die Sonne, bei ſeiner
Anwendung ergibt ſich jedoch, daß er eitel Dunſt war;
jetzt wieder bewährt ſich einer eine Zeit lang ſcheinbar
trefflich, wir preiſen ihn als treuen Diener, plötzlich findet
ſich, daß der treue Diener uns ſchmählich beſtohlen hat.
Curirt nun ein Arzt an einem ſolchen Patienten erfolglos
herum, ſo ſchafft dieſer ihn ab, wendet ſich an einen zweiten,
dritten, vierten. Hat er daheim alle namhaften Doctoren
vergebens durchconſultirt, ſo verſucht er es in anderen
Städten, wirft ſich dieſer und jener neuen Methode in die
Arme. Dabei vergeht viel Zeit, und das iſt der erſte
Gewinn, denn, um Ihnen nun auch mit Sprüchwörtern
zu dienen, „kommt Zeit, kommt Rath“, „Zeit heilt Alles“.
Der zweite Gewinn iſt, daß ſein Grimm ſich nur gegen
einen Arzt nach dem andern, zuletzt gegen alle Aerzte, alſo
immer nur nach außen richtet, nicht gegen ſich ſelbſt. Im
Hintergrunde ſeiner angſtvollen Seele ſitzt immer noch die
Hoffnung, die ihm Muth und Troſt zuſpricht. Du haſt das
Deinige gethan, ſagt er ſich, keine Koſten, keine Mühe
geſcheut, vielleicht findet ſich doch noch der rechte Mann, der
Dir hilft. Denken wir uns nun aber in die Lage eines
Menſchen, der ſeine wirkliche, oder gar ſeine eingebildete
Krankheit ſelbſt curiren will, wie er aus Büchern ſich Rath
holt, hin und her experimentirt, grübelt und griesgrämelt,
Tagebücher und Tabellen führt über ſeine täglichen Wahr-
nehmungen, Empfindungen, Leiſtungen und Leiden, vier
Abſtufungen von Unterjacken und Ueberröcken hat u. ſ. w.,
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[96/0110] IV. Hypochondriſche Studien. oder Laſſen ihre Geſetze übertreten haben, Achtung vor ihnen hingegen belohnen und ſo uns förmliche Anleitung ertheilen, was ihren Zorn verſöhnen kann, ſcheinen die Nerven, wenn ſie erſt einmal aufſäſſig geworden, an Unbeſtändigkeit, Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit und Tyrannei Alles zu überbieten, was je den Frauen nachgeſagt ward. Ihre Orakelſprüche ſind bald völlig unverſtändlich, bald zweideutig; jetzt ſcheint ein Rath klar, lichtvoll wie die Sonne, bei ſeiner Anwendung ergibt ſich jedoch, daß er eitel Dunſt war; jetzt wieder bewährt ſich einer eine Zeit lang ſcheinbar trefflich, wir preiſen ihn als treuen Diener, plötzlich findet ſich, daß der treue Diener uns ſchmählich beſtohlen hat. Curirt nun ein Arzt an einem ſolchen Patienten erfolglos herum, ſo ſchafft dieſer ihn ab, wendet ſich an einen zweiten, dritten, vierten. Hat er daheim alle namhaften Doctoren vergebens durchconſultirt, ſo verſucht er es in anderen Städten, wirft ſich dieſer und jener neuen Methode in die Arme. Dabei vergeht viel Zeit, und das iſt der erſte Gewinn, denn, um Ihnen nun auch mit Sprüchwörtern zu dienen, „kommt Zeit, kommt Rath“, „Zeit heilt Alles“. Der zweite Gewinn iſt, daß ſein Grimm ſich nur gegen einen Arzt nach dem andern, zuletzt gegen alle Aerzte, alſo immer nur nach außen richtet, nicht gegen ſich ſelbſt. Im Hintergrunde ſeiner angſtvollen Seele ſitzt immer noch die Hoffnung, die ihm Muth und Troſt zuſpricht. Du haſt das Deinige gethan, ſagt er ſich, keine Koſten, keine Mühe geſcheut, vielleicht findet ſich doch noch der rechte Mann, der Dir hilft. Denken wir uns nun aber in die Lage eines Menſchen, der ſeine wirkliche, oder gar ſeine eingebildete Krankheit ſelbſt curiren will, wie er aus Büchern ſich Rath holt, hin und her experimentirt, grübelt und griesgrämelt, Tagebücher und Tabellen führt über ſeine täglichen Wahr- nehmungen, Empfindungen, Leiſtungen und Leiden, vier Abſtufungen von Unterjacken und Ueberröcken hat u. ſ. w., ſo haben wir ein Stück Menſchheit vor uns, das zu all

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Zitationshilfe: Michelis, Arthur: Reiseschule für Touristen und Curgäste. Leipzig, 1869, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelis_reiseschule_1869/110>, abgerufen am 25.11.2024.