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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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meinen Volkswillen der unumschränkten Willkür eines Einzelnen
entgegengesetzt. Aber merkwürdiger Weise haben sich hier die Ge-
gensätze oft so verkehrt, daß dieser einzelne Wille dabei doch als
der angestammte Vertreter des allgemeinen Willens ein Recht von
Gottes Gnaden in Anspruch nimmt, und der von der Mehrheit
ausgesprochene Wille des Volks für Willkür und Gesetzlosigkeit
gehalten wird. So wenig als der Protestantismus vorhin mit
dem Katholicismus ganz gebrochen hat, so wenig hat das verfas-
sungsmäßige Königthum sich bis jetzt von der unumschränkten
Herrschsucht los machen können. Die Aufgabe ist hier, daß der
Einzelne, wenn auch durch die Geburt an diesen Platz gestellt,
sein besonderes Wollen in den Ausspruch der Mehrheit des Vol-
kes auflöse, und darin den allgemeinen, den göttlichen Willen er-
kenne, für dessen Vertreter auf Erden er sich, aber auch nur dann
allein, ansehen darf.

Zwei Grundsätze sind es, welche auf diese Weise in der
neuern Bildungsgeschichte in schroffem Kampfe gegen einander be-
griffen sind. Das Einzelleben ist vielleicht zu keiner Zeit so sehr
erstarkt, als in der unsrigen, eben weil Jeder die Richtschnur sei-
nes Denkens und Handelns aus seinem eigenen Jnneren schöpfen
soll. Damit scheinen wir auf den Standpunkt der Gesetzlosigkeit
gestellt zu sein, indem keiner einer äußern Vorschrift gehorchen will.
Deshalb ist es aber auch in keiner Zeit von so unabweislicher
Rothwendigkeit, als gerade jetzt, das Bewußtsein der Gemeinsam-
keit der Geister, den Drang nach gemeinschaftlichem, einmüthigem
Handeln zu stärken. Denn nur so kann mit der Freiheit und
Gleichheit eines Jeden die innigste Verbrüderung Aller Hand in
Hand gehen. Dem ausgebildetsten Einzelleben steht also das regste
Streben nach Einheit der Geister und Gemeinsamkeit des Wir-
kens im All-Leben der Menschheit zur Seite. Und daß diese
Gegensätze mit gleicher Berechtigung, mit demselben Anspruch auf
Berücksichtigung hervortreten, das ist gerade der Grund der un-
geheuern Zerrissenheit unserer Zeit. Sehr treffend sagt daher einer
meiner Freunde, der Dr. Roth, im Eingange einer kleinen Schrift:
"Jdeen zur Wiederherstellung eines soliden Gewerbewesens im
Sinne unserer Zeit," aus der ich noch viel Lehrreiches werde zu
schöpfen haben: "Mein geistiges Auge sucht den Charakter unse-

meinen Volkswillen der unumſchränkten Willkür eines Einzelnen
entgegengeſetzt. Aber merkwürdiger Weiſe haben ſich hier die Ge-
genſätze oft ſo verkehrt, daß dieſer einzelne Wille dabei doch als
der angeſtammte Vertreter des allgemeinen Willens ein Recht von
Gottes Gnaden in Anſpruch nimmt, und der von der Mehrheit
ausgeſprochene Wille des Volks für Willkür und Geſetzloſigkeit
gehalten wird. So wenig als der Proteſtantismus vorhin mit
dem Katholicismus ganz gebrochen hat, ſo wenig hat das verfaſ-
ſungsmäßige Königthum ſich bis jetzt von der unumſchränkten
Herrſchſucht los machen können. Die Aufgabe iſt hier, daß der
Einzelne, wenn auch durch die Geburt an dieſen Platz geſtellt,
ſein beſonderes Wollen in den Ausſpruch der Mehrheit des Vol-
kes auflöſe, und darin den allgemeinen, den göttlichen Willen er-
kenne, für deſſen Vertreter auf Erden er ſich, aber auch nur dann
allein, anſehen darf.

Zwei Grundſätze ſind es, welche auf dieſe Weiſe in der
neuern Bildungsgeſchichte in ſchroffem Kampfe gegen einander be-
griffen ſind. Das Einzelleben iſt vielleicht zu keiner Zeit ſo ſehr
erſtarkt, als in der unſrigen, eben weil Jeder die Richtſchnur ſei-
nes Denkens und Handelns aus ſeinem eigenen Jnneren ſchöpfen
ſoll. Damit ſcheinen wir auf den Standpunkt der Geſetzloſigkeit
geſtellt zu ſein, indem keiner einer äußern Vorſchrift gehorchen will.
Deshalb iſt es aber auch in keiner Zeit von ſo unabweislicher
Rothwendigkeit, als gerade jetzt, das Bewußtſein der Gemeinſam-
keit der Geiſter, den Drang nach gemeinſchaftlichem, einmüthigem
Handeln zu ſtärken. Denn nur ſo kann mit der Freiheit und
Gleichheit eines Jeden die innigſte Verbrüderung Aller Hand in
Hand gehen. Dem ausgebildetſten Einzelleben ſteht alſo das regſte
Streben nach Einheit der Geiſter und Gemeinſamkeit des Wir-
kens im All-Leben der Menſchheit zur Seite. Und daß dieſe
Gegenſätze mit gleicher Berechtigung, mit demſelben Anſpruch auf
Berückſichtigung hervortreten, das iſt gerade der Grund der un-
geheuern Zerriſſenheit unſerer Zeit. Sehr treffend ſagt daher einer
meiner Freunde, der Dr. Roth, im Eingange einer kleinen Schrift:
„Jdeen zur Wiederherſtellung eines ſoliden Gewerbeweſens im
Sinne unſerer Zeit,‟ aus der ich noch viel Lehrreiches werde zu
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[38/0048] meinen Volkswillen der unumſchränkten Willkür eines Einzelnen entgegengeſetzt. Aber merkwürdiger Weiſe haben ſich hier die Ge- genſätze oft ſo verkehrt, daß dieſer einzelne Wille dabei doch als der angeſtammte Vertreter des allgemeinen Willens ein Recht von Gottes Gnaden in Anſpruch nimmt, und der von der Mehrheit ausgeſprochene Wille des Volks für Willkür und Geſetzloſigkeit gehalten wird. So wenig als der Proteſtantismus vorhin mit dem Katholicismus ganz gebrochen hat, ſo wenig hat das verfaſ- ſungsmäßige Königthum ſich bis jetzt von der unumſchränkten Herrſchſucht los machen können. Die Aufgabe iſt hier, daß der Einzelne, wenn auch durch die Geburt an dieſen Platz geſtellt, ſein beſonderes Wollen in den Ausſpruch der Mehrheit des Vol- kes auflöſe, und darin den allgemeinen, den göttlichen Willen er- kenne, für deſſen Vertreter auf Erden er ſich, aber auch nur dann allein, anſehen darf. Zwei Grundſätze ſind es, welche auf dieſe Weiſe in der neuern Bildungsgeſchichte in ſchroffem Kampfe gegen einander be- griffen ſind. Das Einzelleben iſt vielleicht zu keiner Zeit ſo ſehr erſtarkt, als in der unſrigen, eben weil Jeder die Richtſchnur ſei- nes Denkens und Handelns aus ſeinem eigenen Jnneren ſchöpfen ſoll. Damit ſcheinen wir auf den Standpunkt der Geſetzloſigkeit geſtellt zu ſein, indem keiner einer äußern Vorſchrift gehorchen will. Deshalb iſt es aber auch in keiner Zeit von ſo unabweislicher Rothwendigkeit, als gerade jetzt, das Bewußtſein der Gemeinſam- keit der Geiſter, den Drang nach gemeinſchaftlichem, einmüthigem Handeln zu ſtärken. Denn nur ſo kann mit der Freiheit und Gleichheit eines Jeden die innigſte Verbrüderung Aller Hand in Hand gehen. Dem ausgebildetſten Einzelleben ſteht alſo das regſte Streben nach Einheit der Geiſter und Gemeinſamkeit des Wir- kens im All-Leben der Menſchheit zur Seite. Und daß dieſe Gegenſätze mit gleicher Berechtigung, mit demſelben Anſpruch auf Berückſichtigung hervortreten, das iſt gerade der Grund der un- geheuern Zerriſſenheit unſerer Zeit. Sehr treffend ſagt daher einer meiner Freunde, der Dr. Roth, im Eingange einer kleinen Schrift: „Jdeen zur Wiederherſtellung eines ſoliden Gewerbeweſens im Sinne unſerer Zeit,‟ aus der ich noch viel Lehrreiches werde zu ſchöpfen haben: „Mein geiſtiges Auge ſucht den Charakter unſe-

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/48>, abgerufen am 23.11.2024.