Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.Es wäre kein Streit über die eigentliche Auslegung dieser Um den Sinn des 108. Artikels genau zu erkennen, bliebe Es wäre kein Streit über die eigentliche Auslegung dieſer Um den Sinn des 108. Artikels genau zu erkennen, bliebe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0035" n="25"/> <p>Es wäre kein Streit über die eigentliche Auslegung dieſer<lb/> Stelle möglich, wäre ſie in der Volksvertretung verhandelt wor-<lb/> den. Denn damit wäre die Erklärung gegeben. So muß man<lb/> bei jedem Geſetze auf die Beweggründe deſſelben zurückgehen kön-<lb/> nen, wie ſie in den Verhandlungen der Ausſchüſſe niedergelegt<lb/> ſind. Das Preußiſche Landrecht iſt von den Rechtslehrern ganz<lb/> Deutſchlands, die gewöhnlichſten Geſetze Preußens ſind durch den<lb/> Staatsrath berathen worden. Wo iſt aber die ehrwürdige Kör-<lb/> perſchaft, durch deren Geiſt die <hi rendition="#g">Verfaſſungsurkunde des<lb/> Preußiſchen Staats</hi> geboren iſt? Was gut daran iſt, ſteht<lb/> im Ausſchuß-Entwurfe der ſo ſehr geſchmähten verfaſſungsgrün-<lb/> denden Verſammlung. Das Uebrige hebt das Verliehene durch<lb/> ſeine Zweideutigkeit aber wieder auf. Man nennt einen oder den<lb/> andern Verfaſſer. Und wäre es auch ein Profeſſor, ſoll der Ge-<lb/> ſetzgeber ſich nun an ihn wenden, wenn er eine amtliche Erklä-<lb/> rung dieſes Paragraphen zu geben hat, der Richter nach ihm<lb/> ſchicken, wenn er denſelben anwenden ſoll? Darf ſo das wich-<lb/> tigſte Geſetz für Preußen gewiſſermaßen in der Haſt kriegeriſcher<lb/> Zurüſtungen aus dem Kriegs-Miniſterium erlaſſen werden?</p><lb/> <p>Um den Sinn des 108. Artikels genau zu erkennen, bliebe<lb/> nur übrig, ihn mit den gleichlautenden Artikeln des erſten Regie-<lb/> rungs-Entwurfs (§. 82.) und des Ausſchuß-Entwurfs der Ver-<lb/> ſammlung (§. 109.) zu vergleichen. Beide heißen gleichlautend:<lb/> „Die beſtehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben, bis<lb/> ſie durch ein Geſetz abgeändert werden.‟ Hier iſt <hi rendition="#g">der</hi> Sinn<lb/> ganz klar, daß dadurch nur angedeutet werden ſollte, wie ein Ge-<lb/> ſetz das bisherige Steuerſyſtem ganz umgeſtalten werde. Gewiß<lb/> kein Mitglied des Ausſchuſſes hat daran gedacht, das Steuerver-<lb/> weigerungsrecht aufzuheben. Nur eine jeſuitiſche Auslegung kann<lb/> das Recht der Regierung daraus ableiten, die alten Steuern zu<lb/> erheben, wenn die Kammer den Staatshaushalt des neuen Jahres<lb/> verweigert hat. Durch die veränderte Faſſung des Satzes in der<lb/> Urkunde vom 5. December wird der Sinn freilich zweifelhafter.<lb/> Die aufgedrungene Oeſterreichiſche Verfaſſung iſt in dieſer Rückſicht ehr-<lb/> licher. Und wenn dem Preußiſchen Miniſterium der freilich nicht<lb/> beneidenswerthe Ruhm gebührt, hier einmal ausnahmsweiſe dem<lb/> Oeſterreichiſchen das Beiſpiel gegeben zu haben, ſo hat dabei der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [25/0035]
Es wäre kein Streit über die eigentliche Auslegung dieſer
Stelle möglich, wäre ſie in der Volksvertretung verhandelt wor-
den. Denn damit wäre die Erklärung gegeben. So muß man
bei jedem Geſetze auf die Beweggründe deſſelben zurückgehen kön-
nen, wie ſie in den Verhandlungen der Ausſchüſſe niedergelegt
ſind. Das Preußiſche Landrecht iſt von den Rechtslehrern ganz
Deutſchlands, die gewöhnlichſten Geſetze Preußens ſind durch den
Staatsrath berathen worden. Wo iſt aber die ehrwürdige Kör-
perſchaft, durch deren Geiſt die Verfaſſungsurkunde des
Preußiſchen Staats geboren iſt? Was gut daran iſt, ſteht
im Ausſchuß-Entwurfe der ſo ſehr geſchmähten verfaſſungsgrün-
denden Verſammlung. Das Uebrige hebt das Verliehene durch
ſeine Zweideutigkeit aber wieder auf. Man nennt einen oder den
andern Verfaſſer. Und wäre es auch ein Profeſſor, ſoll der Ge-
ſetzgeber ſich nun an ihn wenden, wenn er eine amtliche Erklä-
rung dieſes Paragraphen zu geben hat, der Richter nach ihm
ſchicken, wenn er denſelben anwenden ſoll? Darf ſo das wich-
tigſte Geſetz für Preußen gewiſſermaßen in der Haſt kriegeriſcher
Zurüſtungen aus dem Kriegs-Miniſterium erlaſſen werden?
Um den Sinn des 108. Artikels genau zu erkennen, bliebe
nur übrig, ihn mit den gleichlautenden Artikeln des erſten Regie-
rungs-Entwurfs (§. 82.) und des Ausſchuß-Entwurfs der Ver-
ſammlung (§. 109.) zu vergleichen. Beide heißen gleichlautend:
„Die beſtehenden Steuern und Abgaben werden forterhoben, bis
ſie durch ein Geſetz abgeändert werden.‟ Hier iſt der Sinn
ganz klar, daß dadurch nur angedeutet werden ſollte, wie ein Ge-
ſetz das bisherige Steuerſyſtem ganz umgeſtalten werde. Gewiß
kein Mitglied des Ausſchuſſes hat daran gedacht, das Steuerver-
weigerungsrecht aufzuheben. Nur eine jeſuitiſche Auslegung kann
das Recht der Regierung daraus ableiten, die alten Steuern zu
erheben, wenn die Kammer den Staatshaushalt des neuen Jahres
verweigert hat. Durch die veränderte Faſſung des Satzes in der
Urkunde vom 5. December wird der Sinn freilich zweifelhafter.
Die aufgedrungene Oeſterreichiſche Verfaſſung iſt in dieſer Rückſicht ehr-
licher. Und wenn dem Preußiſchen Miniſterium der freilich nicht
beneidenswerthe Ruhm gebührt, hier einmal ausnahmsweiſe dem
Oeſterreichiſchen das Beiſpiel gegeben zu haben, ſo hat dabei der
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Zitationshilfe: | Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/35>, abgerufen am 16.07.2024. |