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Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849.

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erhob, empfanden wir, was die Gesellschaft sein soll, sein
kann; und das Geheimniß des unsterblichen Lebens ward
uns offenbart. Den ganzen Tag arbeiteten wir, ohne irgend
etwas in uns zu empfinden, was einem Befehl oder Gehorsam
geglichen hätte, mit merkwürdigem Einklang, als wenn wir alle
zugleich die ursprünglichen Glieder der Bewegung gewesen wären."

Jn einer solchen geistigen Wiedergeburt ist die ewige Per-
sönlichkeit des Geistes
in der vergänglichen Einzelnheit gegen-
wärtig; und die Lösung der gesellschaftlichen Frage zieht so das
Jenseits ins Diesseits herunter, und befreit uns von einer Sehn-
sucht, die unbefriedigt aus den Widersprüchen des irdischen Lebens
einer nebelhaften Welt entgegensteuert. Die himmlische Jerusalem
fährt, wie es in der Schrift heißt, als eine geschmückte Braut,
zur Erde herab. Mittelbar oder unmittelbar müssen alle Men-
schen in Jnteressen und Handlungen mit allen andern Eins sein;
jeder ist der persönlich gewordene Verein. Jndem so in diesem
neuen Staatsleben jeder Bürger thut, was er will, nimmt er
unmittelbar an der Gesetzgebung und Verwaltung, wie an der
Erzeugung und dem Umlauf des Reichthums Theil. Jeder Bür-
ger ist nun was wir am Anfang forderten, König. Er hat die
Fülle der Macht, er herrscht und regiert. Es ist die Freiheit,
die von allen Hemmungen befreit, dem Aberglauben, dem Vorur-
theil, dem Trugschluß, dem Börsenspiel, dem Ansehen; es ist die
gegenseitige, nicht die sich einschränkende Freiheit.
Nachdem wir ihren Jnhalt in der Lösung der gesellschaftlichen
Frage dargelegt haben, bleibt uns nur noch übrig, ihre Formen
in dem Entwurf einer Deutschen Bundesverfassung, wie sie dem
Begriff der Sache gemäß ausgeprägt sein müßten, folgen zu lassen.
Wenn dagegen der Einwand erhoben werden sollte, daß sie sich
jetzt nicht durchführen lasse, so habe ich den bestehenden Verhält-
nissen Rechnung getragen, und Aenderuugen vorgeschlagen, ohne
darum die Forderungen der Jdee im Mindesten verschleiern
zu wollen.



erhob, empfanden wir, was die Geſellſchaft ſein ſoll, ſein
kann; und das Geheimniß des unſterblichen Lebens ward
uns offenbart. Den ganzen Tag arbeiteten wir, ohne irgend
etwas in uns zu empfinden, was einem Befehl oder Gehorſam
geglichen hätte, mit merkwürdigem Einklang, als wenn wir alle
zugleich die urſprünglichen Glieder der Bewegung geweſen wären.‟

Jn einer ſolchen geiſtigen Wiedergeburt iſt die ewige Per-
ſönlichkeit des Geiſtes
in der vergänglichen Einzelnheit gegen-
wärtig; und die Löſung der geſellſchaftlichen Frage zieht ſo das
Jenſeits ins Dieſſeits herunter, und befreit uns von einer Sehn-
ſucht, die unbefriedigt aus den Widerſprüchen des irdiſchen Lebens
einer nebelhaften Welt entgegenſteuert. Die himmliſche Jeruſalem
fährt, wie es in der Schrift heißt, als eine geſchmückte Braut,
zur Erde herab. Mittelbar oder unmittelbar müſſen alle Men-
ſchen in Jntereſſen und Handlungen mit allen andern Eins ſein;
jeder iſt der perſönlich gewordene Verein. Jndem ſo in dieſem
neuen Staatsleben jeder Bürger thut, was er will, nimmt er
unmittelbar an der Geſetzgebung und Verwaltung, wie an der
Erzeugung und dem Umlauf des Reichthums Theil. Jeder Bür-
ger iſt nun was wir am Anfang forderten, König. Er hat die
Fülle der Macht, er herrſcht und regiert. Es iſt die Freiheit,
die von allen Hemmungen befreit, dem Aberglauben, dem Vorur-
theil, dem Trugſchluß, dem Börſenſpiel, dem Anſehen; es iſt die
gegenſeitige, nicht die ſich einſchränkende Freiheit.
Nachdem wir ihren Jnhalt in der Löſung der geſellſchaftlichen
Frage dargelegt haben, bleibt uns nur noch übrig, ihre Formen
in dem Entwurf einer Deutſchen Bundesverfaſſung, wie ſie dem
Begriff der Sache gemäß ausgeprägt ſein müßten, folgen zu laſſen.
Wenn dagegen der Einwand erhoben werden ſollte, daß ſie ſich
jetzt nicht durchführen laſſe, ſo habe ich den beſtehenden Verhält-
niſſen Rechnung getragen, und Aenderuugen vorgeſchlagen, ohne
darum die Forderungen der Jdee im Mindeſten verſchleiern
zu wollen.



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[128/0138] erhob, empfanden wir, was die Geſellſchaft ſein ſoll, ſein kann; und das Geheimniß des unſterblichen Lebens ward uns offenbart. Den ganzen Tag arbeiteten wir, ohne irgend etwas in uns zu empfinden, was einem Befehl oder Gehorſam geglichen hätte, mit merkwürdigem Einklang, als wenn wir alle zugleich die urſprünglichen Glieder der Bewegung geweſen wären.‟ Jn einer ſolchen geiſtigen Wiedergeburt iſt die ewige Per- ſönlichkeit des Geiſtes in der vergänglichen Einzelnheit gegen- wärtig; und die Löſung der geſellſchaftlichen Frage zieht ſo das Jenſeits ins Dieſſeits herunter, und befreit uns von einer Sehn- ſucht, die unbefriedigt aus den Widerſprüchen des irdiſchen Lebens einer nebelhaften Welt entgegenſteuert. Die himmliſche Jeruſalem fährt, wie es in der Schrift heißt, als eine geſchmückte Braut, zur Erde herab. Mittelbar oder unmittelbar müſſen alle Men- ſchen in Jntereſſen und Handlungen mit allen andern Eins ſein; jeder iſt der perſönlich gewordene Verein. Jndem ſo in dieſem neuen Staatsleben jeder Bürger thut, was er will, nimmt er unmittelbar an der Geſetzgebung und Verwaltung, wie an der Erzeugung und dem Umlauf des Reichthums Theil. Jeder Bür- ger iſt nun was wir am Anfang forderten, König. Er hat die Fülle der Macht, er herrſcht und regiert. Es iſt die Freiheit, die von allen Hemmungen befreit, dem Aberglauben, dem Vorur- theil, dem Trugſchluß, dem Börſenſpiel, dem Anſehen; es iſt die gegenſeitige, nicht die ſich einſchränkende Freiheit. Nachdem wir ihren Jnhalt in der Löſung der geſellſchaftlichen Frage dargelegt haben, bleibt uns nur noch übrig, ihre Formen in dem Entwurf einer Deutſchen Bundesverfaſſung, wie ſie dem Begriff der Sache gemäß ausgeprägt ſein müßten, folgen zu laſſen. Wenn dagegen der Einwand erhoben werden ſollte, daß ſie ſich jetzt nicht durchführen laſſe, ſo habe ich den beſtehenden Verhält- niſſen Rechnung getragen, und Aenderuugen vorgeſchlagen, ohne darum die Forderungen der Jdee im Mindeſten verſchleiern zu wollen.

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Zitationshilfe: Michelet, Karl Ludwig: Die Lösung der gesellschaftlichen Frage. Frankfurt (Oder) u. a., 1849, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/michelet_loesung_1849/138>, abgerufen am 22.11.2024.