Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.liches Leben. Er, ein geborner Franke, stand hoch in den Fünfzigen und war nicht von rüstiger Gesundheit, sah darum etwas bejahrter aus, litt aber an Unpäßlichkeiten, bei denen man alt werden kann, zumal wenn man der Pflege einer Frau genießt, wie die Pfarrerin eine war. Diese stammte aus der Umgegend von Ulm und gehörte zu jenen Schwäbinnen, deren Herzensgüte durch eine bedeutende Gabe von Klugheit geschützt ist. Damit paßte sie vortrefflich zu dem Geistlichen, dessen natürliche Gutmüthigkeit im Umgang mehr mit sich selbst und mit Büchern, als mit der Welt, einen kindlichen Charakter behalten hatte und dem im Punkte der praktischen Gewandtheit, die zur Führung eines Hauswesens doch auch gehört, eine Ergänzung nicht schaden konnte. Beide waren dermalen allein; ein Sohn und eine Tochter waren versorgt, und ihre Besuche brachten nur zuweilen ein geräuschvolleres Leben ins Pfarrhaus. Daß die Bäbe sich in dieser Familie wohl fühlte, begreift sich um so mehr, als die Leute auch eigenes Vermögen hatten und die Pfarrerin, die einen geordneten Haushalt führte, an nichts zu kargen brauchte, auch nicht am Lohn und an der Beköstigung der Magd. Beide hatten sich aber auch schon an die Bäbe gewöhnt und würden sie ungern vermißt haben. Ihr guter Humor, ihre unverdrossene Art zu arbeiten und ihre natürliche Schmeichelkunst, gegründet auf die schnelle Erkenntniß dessen, was den Menschen angenehm war, hatte sie bald beliebt gemacht, und da sie auch die Probe der liches Leben. Er, ein geborner Franke, stand hoch in den Fünfzigen und war nicht von rüstiger Gesundheit, sah darum etwas bejahrter aus, litt aber an Unpäßlichkeiten, bei denen man alt werden kann, zumal wenn man der Pflege einer Frau genießt, wie die Pfarrerin eine war. Diese stammte aus der Umgegend von Ulm und gehörte zu jenen Schwäbinnen, deren Herzensgüte durch eine bedeutende Gabe von Klugheit geschützt ist. Damit paßte sie vortrefflich zu dem Geistlichen, dessen natürliche Gutmüthigkeit im Umgang mehr mit sich selbst und mit Büchern, als mit der Welt, einen kindlichen Charakter behalten hatte und dem im Punkte der praktischen Gewandtheit, die zur Führung eines Hauswesens doch auch gehört, eine Ergänzung nicht schaden konnte. Beide waren dermalen allein; ein Sohn und eine Tochter waren versorgt, und ihre Besuche brachten nur zuweilen ein geräuschvolleres Leben ins Pfarrhaus. Daß die Bäbe sich in dieser Familie wohl fühlte, begreift sich um so mehr, als die Leute auch eigenes Vermögen hatten und die Pfarrerin, die einen geordneten Haushalt führte, an nichts zu kargen brauchte, auch nicht am Lohn und an der Beköstigung der Magd. Beide hatten sich aber auch schon an die Bäbe gewöhnt und würden sie ungern vermißt haben. Ihr guter Humor, ihre unverdrossene Art zu arbeiten und ihre natürliche Schmeichelkunst, gegründet auf die schnelle Erkenntniß dessen, was den Menschen angenehm war, hatte sie bald beliebt gemacht, und da sie auch die Probe der <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0070"/> liches Leben. Er, ein geborner Franke, stand hoch in den Fünfzigen und war nicht von rüstiger Gesundheit, sah darum etwas bejahrter aus, litt aber an Unpäßlichkeiten, bei denen man alt werden kann, zumal wenn man der Pflege einer Frau genießt, wie die Pfarrerin eine war. Diese stammte aus der Umgegend von Ulm und gehörte zu jenen Schwäbinnen, deren Herzensgüte durch eine bedeutende Gabe von Klugheit geschützt ist. Damit paßte sie vortrefflich zu dem Geistlichen, dessen natürliche Gutmüthigkeit im Umgang mehr mit sich selbst und mit Büchern, als mit der Welt, einen kindlichen Charakter behalten hatte und dem im Punkte der praktischen Gewandtheit, die zur Führung eines Hauswesens doch auch gehört, eine Ergänzung nicht schaden konnte. Beide waren dermalen allein; ein Sohn und eine Tochter waren versorgt, und ihre Besuche brachten nur zuweilen ein geräuschvolleres Leben ins Pfarrhaus.</p><lb/> <p>Daß die Bäbe sich in dieser Familie wohl fühlte, begreift sich um so mehr, als die Leute auch eigenes Vermögen hatten und die Pfarrerin, die einen geordneten Haushalt führte, an nichts zu kargen brauchte, auch nicht am Lohn und an der Beköstigung der Magd. Beide hatten sich aber auch schon an die Bäbe gewöhnt und würden sie ungern vermißt haben. Ihr guter Humor, ihre unverdrossene Art zu arbeiten und ihre natürliche Schmeichelkunst, gegründet auf die schnelle Erkenntniß dessen, was den Menschen angenehm war, hatte sie bald beliebt gemacht, und da sie auch die Probe der<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0070]
liches Leben. Er, ein geborner Franke, stand hoch in den Fünfzigen und war nicht von rüstiger Gesundheit, sah darum etwas bejahrter aus, litt aber an Unpäßlichkeiten, bei denen man alt werden kann, zumal wenn man der Pflege einer Frau genießt, wie die Pfarrerin eine war. Diese stammte aus der Umgegend von Ulm und gehörte zu jenen Schwäbinnen, deren Herzensgüte durch eine bedeutende Gabe von Klugheit geschützt ist. Damit paßte sie vortrefflich zu dem Geistlichen, dessen natürliche Gutmüthigkeit im Umgang mehr mit sich selbst und mit Büchern, als mit der Welt, einen kindlichen Charakter behalten hatte und dem im Punkte der praktischen Gewandtheit, die zur Führung eines Hauswesens doch auch gehört, eine Ergänzung nicht schaden konnte. Beide waren dermalen allein; ein Sohn und eine Tochter waren versorgt, und ihre Besuche brachten nur zuweilen ein geräuschvolleres Leben ins Pfarrhaus.
Daß die Bäbe sich in dieser Familie wohl fühlte, begreift sich um so mehr, als die Leute auch eigenes Vermögen hatten und die Pfarrerin, die einen geordneten Haushalt führte, an nichts zu kargen brauchte, auch nicht am Lohn und an der Beköstigung der Magd. Beide hatten sich aber auch schon an die Bäbe gewöhnt und würden sie ungern vermißt haben. Ihr guter Humor, ihre unverdrossene Art zu arbeiten und ihre natürliche Schmeichelkunst, gegründet auf die schnelle Erkenntniß dessen, was den Menschen angenehm war, hatte sie bald beliebt gemacht, und da sie auch die Probe der
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/70>, abgerufen am 29.06.2024. |