Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.I. Unter den Handwerkern ist der Schneider von Alters her eine humoristische Figur gewesen; die Thatsache ist unleugbar und nicht schwer zu erklären. Die sitzende Lebensart und die Beschäftigung mit der Nadel sind nicht geeignet, die Gliedmaßen imponirend auszubilden und dem Körper jene Derbheit und Schlagkraft zu geben, die in rohern Zeiten vor allem Respect einflößen. Die verhältnißmäßige Feinheit und Friedlichkeit der Arbeit begünstigt die Reflexion, und wenn der Mangel an tüchtiger Bewegung eine Schwächung des Leibes zur Folge hat, so pflegt der Schneider sich auch gewöhnlich noch "des Gedankens Blässe anzukränkeln." Das Metier weis't ihn endlich darauf hin, seiner Erscheinung etwas Zierliches zu geben und sich selbst den höhergestellten Persönlichkeiten, die er durch sein Talent standesmäßig auszustaffiren hat, nach Möglichkeit anzunähern. In Folge von alledem wird der Schneider in der Regel eine schmächtige, bläßliche, reizbare, nette und putzige Figur mit einer überwiegenden Tendenz zur Vornehmheit in Haltung und Benehmen. Wie leicht er damit der komischen Nemesis verfällt, sieht man. Seine Reizbarkeit und seine Meinung von sich selbst verwickeln ihn in I. Unter den Handwerkern ist der Schneider von Alters her eine humoristische Figur gewesen; die Thatsache ist unleugbar und nicht schwer zu erklären. Die sitzende Lebensart und die Beschäftigung mit der Nadel sind nicht geeignet, die Gliedmaßen imponirend auszubilden und dem Körper jene Derbheit und Schlagkraft zu geben, die in rohern Zeiten vor allem Respect einflößen. Die verhältnißmäßige Feinheit und Friedlichkeit der Arbeit begünstigt die Reflexion, und wenn der Mangel an tüchtiger Bewegung eine Schwächung des Leibes zur Folge hat, so pflegt der Schneider sich auch gewöhnlich noch „des Gedankens Blässe anzukränkeln.“ Das Metier weis't ihn endlich darauf hin, seiner Erscheinung etwas Zierliches zu geben und sich selbst den höhergestellten Persönlichkeiten, die er durch sein Talent standesmäßig auszustaffiren hat, nach Möglichkeit anzunähern. In Folge von alledem wird der Schneider in der Regel eine schmächtige, bläßliche, reizbare, nette und putzige Figur mit einer überwiegenden Tendenz zur Vornehmheit in Haltung und Benehmen. Wie leicht er damit der komischen Nemesis verfällt, sieht man. Seine Reizbarkeit und seine Meinung von sich selbst verwickeln ihn in <TEI> <text> <pb facs="#f0007"/> <body> <div type="chapter" n="1"> <head>I.</head> <p>Unter den Handwerkern ist der Schneider von Alters her eine humoristische Figur gewesen; die Thatsache ist unleugbar und nicht schwer zu erklären. Die sitzende Lebensart und die Beschäftigung mit der Nadel sind nicht geeignet, die Gliedmaßen imponirend auszubilden und dem Körper jene Derbheit und Schlagkraft zu geben, die in rohern Zeiten vor allem Respect einflößen. Die verhältnißmäßige Feinheit und Friedlichkeit der Arbeit begünstigt die Reflexion, und wenn der Mangel an tüchtiger Bewegung eine Schwächung des Leibes zur Folge hat, so pflegt der Schneider sich auch gewöhnlich noch „des Gedankens Blässe anzukränkeln.“ Das Metier weis't ihn endlich darauf hin, seiner Erscheinung etwas Zierliches zu geben und sich selbst den höhergestellten Persönlichkeiten, die er durch sein Talent standesmäßig auszustaffiren hat, nach Möglichkeit anzunähern. In Folge von alledem wird der Schneider in der Regel eine schmächtige, bläßliche, reizbare, nette und putzige Figur mit einer überwiegenden Tendenz zur Vornehmheit in Haltung und Benehmen. Wie leicht er damit der komischen Nemesis verfällt, sieht man. Seine Reizbarkeit und seine Meinung von sich selbst verwickeln ihn in<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0007]
I. Unter den Handwerkern ist der Schneider von Alters her eine humoristische Figur gewesen; die Thatsache ist unleugbar und nicht schwer zu erklären. Die sitzende Lebensart und die Beschäftigung mit der Nadel sind nicht geeignet, die Gliedmaßen imponirend auszubilden und dem Körper jene Derbheit und Schlagkraft zu geben, die in rohern Zeiten vor allem Respect einflößen. Die verhältnißmäßige Feinheit und Friedlichkeit der Arbeit begünstigt die Reflexion, und wenn der Mangel an tüchtiger Bewegung eine Schwächung des Leibes zur Folge hat, so pflegt der Schneider sich auch gewöhnlich noch „des Gedankens Blässe anzukränkeln.“ Das Metier weis't ihn endlich darauf hin, seiner Erscheinung etwas Zierliches zu geben und sich selbst den höhergestellten Persönlichkeiten, die er durch sein Talent standesmäßig auszustaffiren hat, nach Möglichkeit anzunähern. In Folge von alledem wird der Schneider in der Regel eine schmächtige, bläßliche, reizbare, nette und putzige Figur mit einer überwiegenden Tendenz zur Vornehmheit in Haltung und Benehmen. Wie leicht er damit der komischen Nemesis verfällt, sieht man. Seine Reizbarkeit und seine Meinung von sich selbst verwickeln ihn in
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-15T14:49:07Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-15T14:49:07Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |