Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Melchior Meyr, geboren den 28. Juni 1810 in dem Dorfe Ehringen bei Nördlingen im schwäbischen Riesgau, Sohn eines wohlhabenden und für Bildung empfänglichen Landmanns, besuchte die Schule in Nördlingen, die Gymnasien in Ansbach und Augsburg, und studirte, früh vom juristischen Fache zu philosophischen und literarhistorischen Studien übergehend, in Heidelberg und München. Gedichte, die er in der Handschrift an Goethe sandte, trugen ihm einen der letzten Briefe des Dichterfürsten mit einem ermuthigenden Worte ein. In Rückert's Nähe verlebte er ein Jahr zu Erlangen. Vom Kronprinzen Max mit Unterstützung zu einer Reise nach Norddeutschland ausgestattet, kam er 1840 nach Berlin, zu jener Zeit, als die Berufung von Schelling, Rückert und Cornelius ein neues Geistesleben verhieß. Er blieb daselbst, für den Unterhalt auf seine Feder angewiesen, im Umgang mit den Genannten, vornehmlich auch mit Lachmann und Kopisch. Im Anfang der fünfziger Jahre, als König Max sich mit Dichtern und Gelehrten umgab, kehrte Meyr nach München zurück und bezog einige Jahre einen Gehalt aus der Cabinetscasse, vermied aber die ihm winkende Anstellung im Staatsdienst oder an der Hochschule, da ihm, dem Unverheirateten, sein Schriftstellerhonorar neben den Erträgnissen eines kleinen Capitals und einer Rente der Schillerstiftung genügte, um in voller Unabhängigkeit seinen philosophischen und dichterischen Arbeiten leben zu können, aus denen ihn am 22. April 1871 der Tod hinwegnahm. Es würde eine psychologisch interessante Aufgabe sein, bei einer ausführlichen Charakteristik dieses trefflichen Mannes im Einzelnen zu schildern, wie die zwei Seelen, die in seiner Brust wohnten, sich durch eine lange Schriftstellerlaufbahn mit einander vertragen, sich gestört, überhaupt auf ienander eingewirkt haben, wie der Dichter dem Philosophen Flügel gab, um sich über die Abgründe schwer zugänglicher Probleme hinwegzuschwingen, während der Denker häufig den Schritt des Dichters vorsichtig mäßigte und ihn da zu verweilen zwang, wo ein rascherer Fortgang Melchior Meyr, geboren den 28. Juni 1810 in dem Dorfe Ehringen bei Nördlingen im schwäbischen Riesgau, Sohn eines wohlhabenden und für Bildung empfänglichen Landmanns, besuchte die Schule in Nördlingen, die Gymnasien in Ansbach und Augsburg, und studirte, früh vom juristischen Fache zu philosophischen und literarhistorischen Studien übergehend, in Heidelberg und München. Gedichte, die er in der Handschrift an Goethe sandte, trugen ihm einen der letzten Briefe des Dichterfürsten mit einem ermuthigenden Worte ein. In Rückert's Nähe verlebte er ein Jahr zu Erlangen. Vom Kronprinzen Max mit Unterstützung zu einer Reise nach Norddeutschland ausgestattet, kam er 1840 nach Berlin, zu jener Zeit, als die Berufung von Schelling, Rückert und Cornelius ein neues Geistesleben verhieß. Er blieb daselbst, für den Unterhalt auf seine Feder angewiesen, im Umgang mit den Genannten, vornehmlich auch mit Lachmann und Kopisch. Im Anfang der fünfziger Jahre, als König Max sich mit Dichtern und Gelehrten umgab, kehrte Meyr nach München zurück und bezog einige Jahre einen Gehalt aus der Cabinetscasse, vermied aber die ihm winkende Anstellung im Staatsdienst oder an der Hochschule, da ihm, dem Unverheirateten, sein Schriftstellerhonorar neben den Erträgnissen eines kleinen Capitals und einer Rente der Schillerstiftung genügte, um in voller Unabhängigkeit seinen philosophischen und dichterischen Arbeiten leben zu können, aus denen ihn am 22. April 1871 der Tod hinwegnahm. Es würde eine psychologisch interessante Aufgabe sein, bei einer ausführlichen Charakteristik dieses trefflichen Mannes im Einzelnen zu schildern, wie die zwei Seelen, die in seiner Brust wohnten, sich durch eine lange Schriftstellerlaufbahn mit einander vertragen, sich gestört, überhaupt auf ienander eingewirkt haben, wie der Dichter dem Philosophen Flügel gab, um sich über die Abgründe schwer zugänglicher Probleme hinwegzuschwingen, während der Denker häufig den Schritt des Dichters vorsichtig mäßigte und ihn da zu verweilen zwang, wo ein rascherer Fortgang <TEI> <text> <front> <pb facs="#f0005"/> <div type="preface"> <p>Melchior Meyr, geboren den 28. Juni 1810 in dem Dorfe Ehringen bei Nördlingen im schwäbischen Riesgau, Sohn eines wohlhabenden und für Bildung empfänglichen Landmanns, besuchte die Schule in Nördlingen, die Gymnasien in Ansbach und Augsburg, und studirte, früh vom juristischen Fache zu philosophischen und literarhistorischen Studien übergehend, in Heidelberg und München. Gedichte, die er in der Handschrift an Goethe sandte, trugen ihm einen der letzten Briefe des Dichterfürsten mit einem ermuthigenden Worte ein. In Rückert's Nähe verlebte er ein Jahr zu Erlangen. Vom Kronprinzen Max mit Unterstützung zu einer Reise nach Norddeutschland ausgestattet, kam er 1840 nach Berlin, zu jener Zeit, als die Berufung von Schelling, Rückert und Cornelius ein neues Geistesleben verhieß. Er blieb daselbst, für den Unterhalt auf seine Feder angewiesen, im Umgang mit den Genannten, vornehmlich auch mit Lachmann und Kopisch. Im Anfang der fünfziger Jahre, als König Max sich mit Dichtern und Gelehrten umgab, kehrte Meyr nach München zurück und bezog einige Jahre einen Gehalt aus der Cabinetscasse, vermied aber die ihm winkende Anstellung im Staatsdienst oder an der Hochschule, da ihm, dem Unverheirateten, sein Schriftstellerhonorar neben den Erträgnissen eines kleinen Capitals und einer Rente der Schillerstiftung genügte, um in voller Unabhängigkeit seinen philosophischen und dichterischen Arbeiten leben zu können, aus denen ihn am 22. 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Melchior Meyr, geboren den 28. Juni 1810 in dem Dorfe Ehringen bei Nördlingen im schwäbischen Riesgau, Sohn eines wohlhabenden und für Bildung empfänglichen Landmanns, besuchte die Schule in Nördlingen, die Gymnasien in Ansbach und Augsburg, und studirte, früh vom juristischen Fache zu philosophischen und literarhistorischen Studien übergehend, in Heidelberg und München. Gedichte, die er in der Handschrift an Goethe sandte, trugen ihm einen der letzten Briefe des Dichterfürsten mit einem ermuthigenden Worte ein. In Rückert's Nähe verlebte er ein Jahr zu Erlangen. Vom Kronprinzen Max mit Unterstützung zu einer Reise nach Norddeutschland ausgestattet, kam er 1840 nach Berlin, zu jener Zeit, als die Berufung von Schelling, Rückert und Cornelius ein neues Geistesleben verhieß. Er blieb daselbst, für den Unterhalt auf seine Feder angewiesen, im Umgang mit den Genannten, vornehmlich auch mit Lachmann und Kopisch. Im Anfang der fünfziger Jahre, als König Max sich mit Dichtern und Gelehrten umgab, kehrte Meyr nach München zurück und bezog einige Jahre einen Gehalt aus der Cabinetscasse, vermied aber die ihm winkende Anstellung im Staatsdienst oder an der Hochschule, da ihm, dem Unverheirateten, sein Schriftstellerhonorar neben den Erträgnissen eines kleinen Capitals und einer Rente der Schillerstiftung genügte, um in voller Unabhängigkeit seinen philosophischen und dichterischen Arbeiten leben zu können, aus denen ihn am 22. April 1871 der Tod hinwegnahm.
Es würde eine psychologisch interessante Aufgabe sein, bei einer ausführlichen Charakteristik dieses trefflichen Mannes im Einzelnen zu schildern, wie die zwei Seelen, die in seiner Brust wohnten, sich durch eine lange Schriftstellerlaufbahn mit einander vertragen, sich gestört, überhaupt auf ienander eingewirkt haben, wie der Dichter dem Philosophen Flügel gab, um sich über die Abgründe schwer zugänglicher Probleme hinwegzuschwingen, während der Denker häufig den Schritt des Dichters vorsichtig mäßigte und ihn da zu verweilen zwang, wo ein rascherer Fortgang
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/5>, abgerufen am 16.07.2024. |