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Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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mitreden! Das wollte sie doch erst sehen, ob man ihr nehmen könnte, was ihr gehörte von Gott und Rechtswegen!

Daß Tobias ihr geschrieben und sie zu einer geheimen Unterredung einlud, freute sie herzinnig. Sie hatte schon vernommen, daß er nicht gerade der Herzhafteste sei und sich aus Gutmüthigkeit Manches gefallen lasse, was Andere zum Beißen und Kratzen brächte: um so mehr schmeichelte ihr die Entschlossenheit, um ihretwillen etwas zu wagen und dem Vater sich entgegenzustellen. Die Gefahr, das treue Herz zu verlieren, machte ihr ihn nochmal so theuer -- und als sie am andern Tag wieder an ihm vorüberging, sagte sie nach dem lauten, gewöhnlichklingenden Gutentag, mit gedämpft entschlossener Stimme: ich komm'!

Dies war am Samstag. Der Sonntag brach herrlich an und versprach das schönste Juniwetter. Am Freitag hatte nicht nur "a kloes Regale" die Wünsche der Landleute erfüllt, sondern ein echter Landregen, der Abends begann und die Nacht durch währte, sie übertroffen. Nachdem am Samstag bei aufgeklärtem Himmel die Trocknung begonnen hatte, war am Sonntag von den Wirkungen des Ergusses nichts mehr übrig als die Staublosigkeit und die allgemeine Frische der Natur. Die Vögel sangen mit Jubel, und die Landleute grüßten sich mit jenen halbfeierlichen, tiefzufriedenen Mienen, die ihnen am heiligen Tage eigen sind, wenn die Sonne

mitreden! Das wollte sie doch erst sehen, ob man ihr nehmen könnte, was ihr gehörte von Gott und Rechtswegen!

Daß Tobias ihr geschrieben und sie zu einer geheimen Unterredung einlud, freute sie herzinnig. Sie hatte schon vernommen, daß er nicht gerade der Herzhafteste sei und sich aus Gutmüthigkeit Manches gefallen lasse, was Andere zum Beißen und Kratzen brächte: um so mehr schmeichelte ihr die Entschlossenheit, um ihretwillen etwas zu wagen und dem Vater sich entgegenzustellen. Die Gefahr, das treue Herz zu verlieren, machte ihr ihn nochmal so theuer — und als sie am andern Tag wieder an ihm vorüberging, sagte sie nach dem lauten, gewöhnlichklingenden Gutentag, mit gedämpft entschlossener Stimme: ich komm'!

Dies war am Samstag. Der Sonntag brach herrlich an und versprach das schönste Juniwetter. Am Freitag hatte nicht nur „a kloes Regale“ die Wünsche der Landleute erfüllt, sondern ein echter Landregen, der Abends begann und die Nacht durch währte, sie übertroffen. Nachdem am Samstag bei aufgeklärtem Himmel die Trocknung begonnen hatte, war am Sonntag von den Wirkungen des Ergusses nichts mehr übrig als die Staublosigkeit und die allgemeine Frische der Natur. Die Vögel sangen mit Jubel, und die Landleute grüßten sich mit jenen halbfeierlichen, tiefzufriedenen Mienen, die ihnen am heiligen Tage eigen sind, wenn die Sonne

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[0048] mitreden! Das wollte sie doch erst sehen, ob man ihr nehmen könnte, was ihr gehörte von Gott und Rechtswegen! Daß Tobias ihr geschrieben und sie zu einer geheimen Unterredung einlud, freute sie herzinnig. Sie hatte schon vernommen, daß er nicht gerade der Herzhafteste sei und sich aus Gutmüthigkeit Manches gefallen lasse, was Andere zum Beißen und Kratzen brächte: um so mehr schmeichelte ihr die Entschlossenheit, um ihretwillen etwas zu wagen und dem Vater sich entgegenzustellen. Die Gefahr, das treue Herz zu verlieren, machte ihr ihn nochmal so theuer — und als sie am andern Tag wieder an ihm vorüberging, sagte sie nach dem lauten, gewöhnlichklingenden Gutentag, mit gedämpft entschlossener Stimme: ich komm'! Dies war am Samstag. Der Sonntag brach herrlich an und versprach das schönste Juniwetter. Am Freitag hatte nicht nur „a kloes Regale“ die Wünsche der Landleute erfüllt, sondern ein echter Landregen, der Abends begann und die Nacht durch währte, sie übertroffen. Nachdem am Samstag bei aufgeklärtem Himmel die Trocknung begonnen hatte, war am Sonntag von den Wirkungen des Ergusses nichts mehr übrig als die Staublosigkeit und die allgemeine Frische der Natur. Die Vögel sangen mit Jubel, und die Landleute grüßten sich mit jenen halbfeierlichen, tiefzufriedenen Mienen, die ihnen am heiligen Tage eigen sind, wenn die Sonne

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:49:07Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:49:07Z)

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Zitationshilfe: Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/48>, abgerufen am 24.11.2024.