Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Das Mädchen gehörte zu den glücklichen Geschöpfen, die mit Gesundheit und Tüchtigkeit an Leib und Seele eine gewinnende natürliche Anmuth verbinden. Stattlich, wohlgebaut und von gedrungenen Formen, in ihrem Benehmen sicher und ruhig, flößte sie auf den ersten Anblick Vertrauen ein. Der Kopf war mehr rund als oval, die Stirn nicht sehr hoch, weil die urkräftigen, dunkeln Haare etwas tiefer als gewöhnlich heruntergingen. Mit dunkelbraunen Augen und einem Gesicht, dessen frisches Roth sich ins Bräunliche verlief, war sie, was man auch im Ries "a schwarzbrauns Deandel" zu nennen und sehr zu schätzen pflegt. Die Anmuth in ihrem Wesen beruhte in angeborner Gutmütigkeit und einer natürlichen Schlauheit, die sie in ihren verschiedenen Dienstverhältnissen ausgebildet hatte. Sie half gern, nahm sich gern der Bedrängten an, erreichte aber auch gern selber ihre Zwecke, die wesentlich praktisch waren und am Ende darauf hinausgingen, in einem guten Dienst bei stetigem Fleiß das bisher ersparte Sümmchen Jahr für Jahr zu vermehren, um endlich, wenn's Gottes Wille wäre, einen braven Mann damit glücklich zu machen. Vergnügten Sinnes von Natur, wurde sie leicht heiter und zeigte beim Lachen hinter frischen, sinnlich behaglichen Lippen schöne mittelgroße Zähne. Wenn sie Eines leiden mochte, sah sie es mit unverhohlenem Wohlwollen und einer Art von mütterlichem Ausdruck an; hatte sie aber entschiedenes Gefallen an Jemand und wollte sie selber Das Mädchen gehörte zu den glücklichen Geschöpfen, die mit Gesundheit und Tüchtigkeit an Leib und Seele eine gewinnende natürliche Anmuth verbinden. Stattlich, wohlgebaut und von gedrungenen Formen, in ihrem Benehmen sicher und ruhig, flößte sie auf den ersten Anblick Vertrauen ein. Der Kopf war mehr rund als oval, die Stirn nicht sehr hoch, weil die urkräftigen, dunkeln Haare etwas tiefer als gewöhnlich heruntergingen. Mit dunkelbraunen Augen und einem Gesicht, dessen frisches Roth sich ins Bräunliche verlief, war sie, was man auch im Ries „a schwarzbrauns Deandel“ zu nennen und sehr zu schätzen pflegt. Die Anmuth in ihrem Wesen beruhte in angeborner Gutmütigkeit und einer natürlichen Schlauheit, die sie in ihren verschiedenen Dienstverhältnissen ausgebildet hatte. Sie half gern, nahm sich gern der Bedrängten an, erreichte aber auch gern selber ihre Zwecke, die wesentlich praktisch waren und am Ende darauf hinausgingen, in einem guten Dienst bei stetigem Fleiß das bisher ersparte Sümmchen Jahr für Jahr zu vermehren, um endlich, wenn's Gottes Wille wäre, einen braven Mann damit glücklich zu machen. Vergnügten Sinnes von Natur, wurde sie leicht heiter und zeigte beim Lachen hinter frischen, sinnlich behaglichen Lippen schöne mittelgroße Zähne. Wenn sie Eines leiden mochte, sah sie es mit unverhohlenem Wohlwollen und einer Art von mütterlichem Ausdruck an; hatte sie aber entschiedenes Gefallen an Jemand und wollte sie selber <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <pb facs="#f0027"/> <p>Das Mädchen gehörte zu den glücklichen Geschöpfen, die mit Gesundheit und Tüchtigkeit an Leib und Seele eine gewinnende natürliche Anmuth verbinden. Stattlich, wohlgebaut und von gedrungenen Formen, in ihrem Benehmen sicher und ruhig, flößte sie auf den ersten Anblick Vertrauen ein. Der Kopf war mehr rund als oval, die Stirn nicht sehr hoch, weil die urkräftigen, dunkeln Haare etwas tiefer als gewöhnlich heruntergingen. Mit dunkelbraunen Augen und einem Gesicht, dessen frisches Roth sich ins Bräunliche verlief, war sie, was man auch im Ries „a schwarzbrauns Deandel“ zu nennen und sehr zu schätzen pflegt.</p><lb/> <p>Die Anmuth in ihrem Wesen beruhte in angeborner Gutmütigkeit und einer natürlichen Schlauheit, die sie in ihren verschiedenen Dienstverhältnissen ausgebildet hatte. Sie half gern, nahm sich gern der Bedrängten an, erreichte aber auch gern selber ihre Zwecke, die wesentlich praktisch waren und am Ende darauf hinausgingen, in einem guten Dienst bei stetigem Fleiß das bisher ersparte Sümmchen Jahr für Jahr zu vermehren, um endlich, wenn's Gottes Wille wäre, einen braven Mann damit glücklich zu machen. Vergnügten Sinnes von Natur, wurde sie leicht heiter und zeigte beim Lachen hinter frischen, sinnlich behaglichen Lippen schöne mittelgroße Zähne. Wenn sie Eines leiden mochte, sah sie es mit unverhohlenem Wohlwollen und einer Art von mütterlichem Ausdruck an; hatte sie aber entschiedenes Gefallen an Jemand und wollte sie selber<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0027]
Das Mädchen gehörte zu den glücklichen Geschöpfen, die mit Gesundheit und Tüchtigkeit an Leib und Seele eine gewinnende natürliche Anmuth verbinden. Stattlich, wohlgebaut und von gedrungenen Formen, in ihrem Benehmen sicher und ruhig, flößte sie auf den ersten Anblick Vertrauen ein. Der Kopf war mehr rund als oval, die Stirn nicht sehr hoch, weil die urkräftigen, dunkeln Haare etwas tiefer als gewöhnlich heruntergingen. Mit dunkelbraunen Augen und einem Gesicht, dessen frisches Roth sich ins Bräunliche verlief, war sie, was man auch im Ries „a schwarzbrauns Deandel“ zu nennen und sehr zu schätzen pflegt.
Die Anmuth in ihrem Wesen beruhte in angeborner Gutmütigkeit und einer natürlichen Schlauheit, die sie in ihren verschiedenen Dienstverhältnissen ausgebildet hatte. Sie half gern, nahm sich gern der Bedrängten an, erreichte aber auch gern selber ihre Zwecke, die wesentlich praktisch waren und am Ende darauf hinausgingen, in einem guten Dienst bei stetigem Fleiß das bisher ersparte Sümmchen Jahr für Jahr zu vermehren, um endlich, wenn's Gottes Wille wäre, einen braven Mann damit glücklich zu machen. Vergnügten Sinnes von Natur, wurde sie leicht heiter und zeigte beim Lachen hinter frischen, sinnlich behaglichen Lippen schöne mittelgroße Zähne. Wenn sie Eines leiden mochte, sah sie es mit unverhohlenem Wohlwollen und einer Art von mütterlichem Ausdruck an; hatte sie aber entschiedenes Gefallen an Jemand und wollte sie selber
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/27>, abgerufen am 16.07.2024. |