Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Tobias folgsam war und ehrbar seine Arbeit that, so half ihm das nicht viel; denn in den Augen des Alten that er damit nur seine verdammte Schuldigkeit, und am Ende, was war er denn, wenn er nicht einmal das konnte? Machte er aber zufällig einen Fehler, oder ließ er sich gar eine Anwandlung von Selbständigkeit beikommen, dann loderte in dem Alten der Verdruß über den Wicht um so rascher und heftiger auf, und die Verachtung schärfte die Strafe, welche die väterliche Gerechtigkeit dictiren zu müssen glaubte. Der Gedemüthigte konnte sich dann nicht einmal an dem Bruder erholen, und die schönen Titel, die er erhielt, an diesen weitergeben; denn Kasper, obwohl zehn Jahre jünger, war ein trotziger Bursch, der sich gegen ihn stellte und um so kecker wurde, je mehr er wahrnahm, wo es bei Tobias eigentlich hoppte, und daß er im Nothfall mit Sicherheit auf den Beistand des Alten rechnen konnte. Eine Entschädigung gewährte dem Schneider doch auch die wirkliche Welt -- in dem Wohlwollen des schönen Geschlechts. Der hübsche, feine Mensch mit der geraden, zierlich kleinen Nase, wie es im Dorf keine zweite gab, hatte den Beifall der Mädchen; und das Unrecht, das man ihm anthat, flößte den guten Seelen keine Geringschätzung, sondern ein gewisses Mitgefühl ein, das dem, der es erregt, stets nützlich zu werden pflegt. Sie lächelten zwar gelegentlich auch über ihn, aber mit Freundlichkeit und mit einem Blick, als ob sie an dem Angefochtenen gar viel Gutes wüßten, wo Tobias folgsam war und ehrbar seine Arbeit that, so half ihm das nicht viel; denn in den Augen des Alten that er damit nur seine verdammte Schuldigkeit, und am Ende, was war er denn, wenn er nicht einmal das konnte? Machte er aber zufällig einen Fehler, oder ließ er sich gar eine Anwandlung von Selbständigkeit beikommen, dann loderte in dem Alten der Verdruß über den Wicht um so rascher und heftiger auf, und die Verachtung schärfte die Strafe, welche die väterliche Gerechtigkeit dictiren zu müssen glaubte. Der Gedemüthigte konnte sich dann nicht einmal an dem Bruder erholen, und die schönen Titel, die er erhielt, an diesen weitergeben; denn Kasper, obwohl zehn Jahre jünger, war ein trotziger Bursch, der sich gegen ihn stellte und um so kecker wurde, je mehr er wahrnahm, wo es bei Tobias eigentlich hoppte, und daß er im Nothfall mit Sicherheit auf den Beistand des Alten rechnen konnte. Eine Entschädigung gewährte dem Schneider doch auch die wirkliche Welt — in dem Wohlwollen des schönen Geschlechts. Der hübsche, feine Mensch mit der geraden, zierlich kleinen Nase, wie es im Dorf keine zweite gab, hatte den Beifall der Mädchen; und das Unrecht, das man ihm anthat, flößte den guten Seelen keine Geringschätzung, sondern ein gewisses Mitgefühl ein, das dem, der es erregt, stets nützlich zu werden pflegt. Sie lächelten zwar gelegentlich auch über ihn, aber mit Freundlichkeit und mit einem Blick, als ob sie an dem Angefochtenen gar viel Gutes wüßten, wo <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="1"> <p><pb facs="#f0019"/> Tobias folgsam war und ehrbar seine Arbeit that, so half ihm das nicht viel; denn in den Augen des Alten that er damit nur seine verdammte Schuldigkeit, und am Ende, was war er denn, wenn er nicht einmal das konnte? Machte er aber zufällig einen Fehler, oder ließ er sich gar eine Anwandlung von Selbständigkeit beikommen, dann loderte in dem Alten der Verdruß über den Wicht um so rascher und heftiger auf, und die Verachtung schärfte die Strafe, welche die väterliche Gerechtigkeit dictiren zu müssen glaubte. Der Gedemüthigte konnte sich dann nicht einmal an dem Bruder erholen, und die schönen Titel, die er erhielt, an diesen weitergeben; denn Kasper, obwohl zehn Jahre jünger, war ein trotziger Bursch, der sich gegen ihn stellte und um so kecker wurde, je mehr er wahrnahm, wo es bei Tobias eigentlich hoppte, und daß er im Nothfall mit Sicherheit auf den Beistand des Alten rechnen konnte.</p><lb/> <p>Eine Entschädigung gewährte dem Schneider doch auch die wirkliche Welt — in dem Wohlwollen des schönen Geschlechts. Der hübsche, feine Mensch mit der geraden, zierlich kleinen Nase, wie es im Dorf keine zweite gab, hatte den Beifall der Mädchen; und das Unrecht, das man ihm anthat, flößte den guten Seelen keine Geringschätzung, sondern ein gewisses Mitgefühl ein, das dem, der es erregt, stets nützlich zu werden pflegt. Sie lächelten zwar gelegentlich auch über ihn, aber mit Freundlichkeit und mit einem Blick, als ob sie an dem Angefochtenen gar viel Gutes wüßten, wo<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0019]
Tobias folgsam war und ehrbar seine Arbeit that, so half ihm das nicht viel; denn in den Augen des Alten that er damit nur seine verdammte Schuldigkeit, und am Ende, was war er denn, wenn er nicht einmal das konnte? Machte er aber zufällig einen Fehler, oder ließ er sich gar eine Anwandlung von Selbständigkeit beikommen, dann loderte in dem Alten der Verdruß über den Wicht um so rascher und heftiger auf, und die Verachtung schärfte die Strafe, welche die väterliche Gerechtigkeit dictiren zu müssen glaubte. Der Gedemüthigte konnte sich dann nicht einmal an dem Bruder erholen, und die schönen Titel, die er erhielt, an diesen weitergeben; denn Kasper, obwohl zehn Jahre jünger, war ein trotziger Bursch, der sich gegen ihn stellte und um so kecker wurde, je mehr er wahrnahm, wo es bei Tobias eigentlich hoppte, und daß er im Nothfall mit Sicherheit auf den Beistand des Alten rechnen konnte.
Eine Entschädigung gewährte dem Schneider doch auch die wirkliche Welt — in dem Wohlwollen des schönen Geschlechts. Der hübsche, feine Mensch mit der geraden, zierlich kleinen Nase, wie es im Dorf keine zweite gab, hatte den Beifall der Mädchen; und das Unrecht, das man ihm anthat, flößte den guten Seelen keine Geringschätzung, sondern ein gewisses Mitgefühl ein, das dem, der es erregt, stets nützlich zu werden pflegt. Sie lächelten zwar gelegentlich auch über ihn, aber mit Freundlichkeit und mit einem Blick, als ob sie an dem Angefochtenen gar viel Gutes wüßten, wo
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Zitationshilfe: | Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyr_schwachen_1910/19>, abgerufen am 16.07.2024. |