Meyr, Melchior: Der Sieg des Schwachen. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 47–255. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.die den Streit als nicht der Rede werth darstellte, und endlich aus den Zusätzen phantasiebegabter Erzähler bildeten sich verschiedene Lesarten, die sich zum Theil stark widersprachen. Nach den Ansichten der Meisten hatte es in dem Schneiderhause eine "schreckliche Geschichte" gegeben; denn die Walpurg mochte sagen, was sie wollt -- daß weder der alte noch der junge Schneider ins Wirthshaus kamen, was sie sonst an diesem Tage nie versäumten, das war deutlich genug. Nach den Einen jedoch hatte der Vater den Sohn halb todtgeschlagen, nach den Andern der Sohn den Alten mit einem Hammer oder Beil auf den Kopf getroffen, daß das Blut in der Stube herumlief -- daß er einen "Treff" hatte auf sein Lebtag und am Ende noch das Gericht einschreiten mußte. -- Sonntags in der Früh klärten sich die Meinungen. Die Ansicht Vieler kam der Wahrheit ziemlich nahe; nur blieb das letzte Ergebniß des Streits unbekannt. Daß der junge Schneider diesmal über den alten Herr geworden, das stellte sich eine halbe Stunde vor der Kirche bei den Meisten als gewiß heraus. Und diese Thatsache erschien Allen ungemein spaßhaft, wenn man auch noch nicht wußte, was nun daraus werden sollte. Als zur Kirche geläutet wurde, sah man den alten Schneider allein aus dem Hofe treten und still und ernst dem Gotteshause zugehen. Weder auf dem Wege noch in der Kirche selbst konnte man an seinem Kopfe die geringste Spur einer Verletzung wahrnehmen; diejenigen, die den Streit als nicht der Rede werth darstellte, und endlich aus den Zusätzen phantasiebegabter Erzähler bildeten sich verschiedene Lesarten, die sich zum Theil stark widersprachen. Nach den Ansichten der Meisten hatte es in dem Schneiderhause eine „schreckliche Geschichte“ gegeben; denn die Walpurg mochte sagen, was sie wollt — daß weder der alte noch der junge Schneider ins Wirthshaus kamen, was sie sonst an diesem Tage nie versäumten, das war deutlich genug. Nach den Einen jedoch hatte der Vater den Sohn halb todtgeschlagen, nach den Andern der Sohn den Alten mit einem Hammer oder Beil auf den Kopf getroffen, daß das Blut in der Stube herumlief — daß er einen „Treff“ hatte auf sein Lebtag und am Ende noch das Gericht einschreiten mußte. — Sonntags in der Früh klärten sich die Meinungen. Die Ansicht Vieler kam der Wahrheit ziemlich nahe; nur blieb das letzte Ergebniß des Streits unbekannt. Daß der junge Schneider diesmal über den alten Herr geworden, das stellte sich eine halbe Stunde vor der Kirche bei den Meisten als gewiß heraus. Und diese Thatsache erschien Allen ungemein spaßhaft, wenn man auch noch nicht wußte, was nun daraus werden sollte. Als zur Kirche geläutet wurde, sah man den alten Schneider allein aus dem Hofe treten und still und ernst dem Gotteshause zugehen. Weder auf dem Wege noch in der Kirche selbst konnte man an seinem Kopfe die geringste Spur einer Verletzung wahrnehmen; diejenigen, <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="6"> <p><pb facs="#f0187"/> die den Streit als nicht der Rede werth darstellte, und endlich aus den Zusätzen phantasiebegabter Erzähler bildeten sich verschiedene Lesarten, die sich zum Theil stark widersprachen. Nach den Ansichten der Meisten hatte es in dem Schneiderhause eine „schreckliche Geschichte“ gegeben; denn die Walpurg mochte sagen, was sie wollt — daß weder der alte noch der junge Schneider ins Wirthshaus kamen, was sie sonst an diesem Tage nie versäumten, das war deutlich genug. Nach den Einen jedoch hatte der Vater den Sohn halb todtgeschlagen, nach den Andern der Sohn den Alten mit einem Hammer oder Beil auf den Kopf getroffen, daß das Blut in der Stube herumlief — daß er einen „Treff“ hatte auf sein Lebtag und am Ende noch das Gericht einschreiten mußte. — Sonntags in der Früh klärten sich die Meinungen. Die Ansicht Vieler kam der Wahrheit ziemlich nahe; nur blieb das letzte Ergebniß des Streits unbekannt. Daß der junge Schneider diesmal über den alten Herr geworden, das stellte sich eine halbe Stunde vor der Kirche bei den Meisten als gewiß heraus. Und diese Thatsache erschien Allen ungemein spaßhaft, wenn man auch noch nicht wußte, was nun daraus werden sollte.</p><lb/> <p>Als zur Kirche geläutet wurde, sah man den alten Schneider allein aus dem Hofe treten und still und ernst dem Gotteshause zugehen. Weder auf dem Wege noch in der Kirche selbst konnte man an seinem Kopfe die geringste Spur einer Verletzung wahrnehmen; diejenigen,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0187]
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Als zur Kirche geläutet wurde, sah man den alten Schneider allein aus dem Hofe treten und still und ernst dem Gotteshause zugehen. Weder auf dem Wege noch in der Kirche selbst konnte man an seinem Kopfe die geringste Spur einer Verletzung wahrnehmen; diejenigen,
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