Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht und jetzt eilte er schon im nächsten thalabwärts
gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer da¬
hin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauer¬
kind eilig neben seinen langen Schritten einherlief. Die
Kleine hielt schon längst einen Brief in die Höhe, der
ihr, wie sie ehrerbietig ausrichtete, von der Schwester
Perpetua für seine Gnaden den Herrn Oberst über¬
geben worden sei, welchen die Schwester an der Pforte
des Klostergartens habe vorübergehen sehn. --

Der Oberst blickte um sich, er war in Cazis.
Er verabschiedete die Kleine und lenkte, wie vom
Finger des Schicksals berührt, in die Dorfgasse ein,
wo sich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem
Umschlage im letzten Dämmerscheine die Handschrift
seines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erken¬
nen geglaubt. Am Fenster eines Erdgeschosses sah er
ein graues Mütterchen beim Scheine der Ampel spinnen.
Er lehnte sich außen an die Mauer, so daß ein spär¬
licher Strahl auf das Blatt fiel und las:

Hochmögender Herr Oberst,

Ich erdreiste mich, Euch Einiges zu melden, das
für Euch und unser Land wichtig sein kann. Der Ver¬
trag von Chiavenna ist ein vergängliches Blendwerk,
das uns die Eminenz in Paris vorspiegelt. Seit ich

nicht und jetzt eilte er ſchon im nächſten thalabwärts
gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer da¬
hin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauer¬
kind eilig neben ſeinen langen Schritten einherlief. Die
Kleine hielt ſchon längſt einen Brief in die Höhe, der
ihr, wie ſie ehrerbietig ausrichtete, von der Schweſter
Perpetua für ſeine Gnaden den Herrn Oberſt über¬
geben worden ſei, welchen die Schweſter an der Pforte
des Kloſtergartens habe vorübergehen ſehn. —

Der Oberſt blickte um ſich, er war in Cazis.
Er verabſchiedete die Kleine und lenkte, wie vom
Finger des Schickſals berührt, in die Dorfgaſſe ein,
wo ſich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem
Umſchlage im letzten Dämmerſcheine die Handſchrift
ſeines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erken¬
nen geglaubt. Am Fenſter eines Erdgeſchoſſes ſah er
ein graues Mütterchen beim Scheine der Ampel ſpinnen.
Er lehnte ſich außen an die Mauer, ſo daß ein ſpär¬
licher Strahl auf das Blatt fiel und las:

Hochmögender Herr Oberſt,

Ich erdreiſte mich, Euch Einiges zu melden, das
für Euch und unſer Land wichtig ſein kann. Der Ver¬
trag von Chiavenna iſt ein vergängliches Blendwerk,
das uns die Eminenz in Paris vorſpiegelt. Seit ich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0282" n="272"/>
nicht und jetzt eilte er &#x017F;chon im näch&#x017F;ten thalabwärts<lb/>
gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer da¬<lb/>
hin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauer¬<lb/>
kind eilig neben &#x017F;einen langen Schritten einherlief. Die<lb/>
Kleine hielt &#x017F;chon läng&#x017F;t einen Brief in die Höhe, der<lb/>
ihr, wie &#x017F;ie ehrerbietig ausrichtete, von der Schwe&#x017F;ter<lb/>
Perpetua für &#x017F;eine Gnaden den Herrn Ober&#x017F;t über¬<lb/>
geben worden &#x017F;ei, welchen die Schwe&#x017F;ter an der Pforte<lb/>
des Klo&#x017F;tergartens habe vorübergehen &#x017F;ehn. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Der Ober&#x017F;t blickte um &#x017F;ich, er war in Cazis.<lb/>
Er verab&#x017F;chiedete die Kleine und lenkte, wie vom<lb/>
Finger des Schick&#x017F;als berührt, in die Dorfga&#x017F;&#x017F;e ein,<lb/>
wo &#x017F;ich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem<lb/>
Um&#x017F;chlage im letzten Dämmer&#x017F;cheine die Hand&#x017F;chrift<lb/>
&#x017F;eines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erken¬<lb/>
nen geglaubt. Am Fen&#x017F;ter eines Erdge&#x017F;cho&#x017F;&#x017F;es &#x017F;ah er<lb/>
ein graues Mütterchen beim Scheine der Ampel &#x017F;pinnen.<lb/>
Er lehnte &#x017F;ich außen an die Mauer, &#x017F;o daß ein &#x017F;pär¬<lb/>
licher Strahl auf das Blatt fiel und las:</p><lb/>
          <floatingText>
            <body>
              <div type="letter">
                <opener>
                  <salute> <hi rendition="#et">Hochmögender Herr Ober&#x017F;t,</hi> </salute>
                </opener><lb/>
                <p>Ich erdrei&#x017F;te mich, Euch Einiges zu melden, das<lb/>
für Euch und un&#x017F;er Land wichtig &#x017F;ein kann. Der Ver¬<lb/>
trag von Chiavenna i&#x017F;t ein vergängliches Blendwerk,<lb/>
das uns die Eminenz in Paris vor&#x017F;piegelt. Seit ich<lb/></p>
              </div>
            </body>
          </floatingText>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[272/0282] nicht und jetzt eilte er ſchon im nächſten thalabwärts gelegenen Dorfe längs einer langen Kirchhofmauer da¬ hin, als er gewahr wurde, daß ein barfüßiges Bauer¬ kind eilig neben ſeinen langen Schritten einherlief. Die Kleine hielt ſchon längſt einen Brief in die Höhe, der ihr, wie ſie ehrerbietig ausrichtete, von der Schweſter Perpetua für ſeine Gnaden den Herrn Oberſt über¬ geben worden ſei, welchen die Schweſter an der Pforte des Kloſtergartens habe vorübergehen ſehn. — Der Oberſt blickte um ſich, er war in Cazis. Er verabſchiedete die Kleine und lenkte, wie vom Finger des Schickſals berührt, in die Dorfgaſſe ein, wo ſich die Lichter entzündet hatten. Er hatte auf dem Umſchlage im letzten Dämmerſcheine die Handſchrift ſeines alten Freundes, des Paters Pancraz, zu erken¬ nen geglaubt. Am Fenſter eines Erdgeſchoſſes ſah er ein graues Mütterchen beim Scheine der Ampel ſpinnen. Er lehnte ſich außen an die Mauer, ſo daß ein ſpär¬ licher Strahl auf das Blatt fiel und las: Hochmögender Herr Oberſt, Ich erdreiſte mich, Euch Einiges zu melden, das für Euch und unſer Land wichtig ſein kann. Der Ver¬ trag von Chiavenna iſt ein vergängliches Blendwerk, das uns die Eminenz in Paris vorſpiegelt. Seit ich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/282
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/282>, abgerufen am 22.12.2024.