Rede des Bündners und der Gewalt ihres Eindrucks auf Lucretia leicht errathen hatte, daß eine gemeinsam verlebte Jugend und warme Neigung die Beiden ver¬ kette. Sie glaubte, nach der eigenen Gemüthsstimmung urtheilend, Lucretia werde ihre Arme, die sie einen Augenblick in inniger Bewegung gegen den Jugend¬ genossen erhoben hatte, rasch um seinen Hals werfen und den gerechten, langjährigen Haß gegen den Mörder ihres Vaters dem Zauber einer alten Liebe und der Unwiderstehlichkeit dieses wundersamen Mannes zum Opfer bringen.
Aber es geschah nicht also. Die erhobenen Arme sanken und die Herzogin sah Lucretias schöne Gestalt erbeben, vom tiefsten Jammer erschüttert. Sie stöhnte laut auf, dann machte sich ihr ein Jugendleben lang stolz getragenes Elend Luft und, sich und ihre fremde Umgebung gänzlich vergessend, brach die qualvoll Be¬ drängte in einen Strom leidenschaftlicher Klage aus.
"Jürg, Jürg," rief sie, "warum hast Du mir das gethan? Gespiele meiner Kindheit, Schutz meiner Ju¬ gend! Oft im finstern italienischen Kloster oder in der unheimlichen Behausung meines Ohms, wenn mein Herz nach der Heimath schrie und ich sie doch nicht betreten durfte ohne die Rache meines Vaters besorgt zu haben, dann im bangen Halbtraume sah ich Dich, den treuen
Meyer, Georg Jenatsch. 12
Rede des Bündners und der Gewalt ihres Eindrucks auf Lucretia leicht errathen hatte, daß eine gemeinſam verlebte Jugend und warme Neigung die Beiden ver¬ kette. Sie glaubte, nach der eigenen Gemüthsſtimmung urtheilend, Lucretia werde ihre Arme, die ſie einen Augenblick in inniger Bewegung gegen den Jugend¬ genoſſen erhoben hatte, raſch um ſeinen Hals werfen und den gerechten, langjährigen Haß gegen den Mörder ihres Vaters dem Zauber einer alten Liebe und der Unwiderſtehlichkeit dieſes wunderſamen Mannes zum Opfer bringen.
Aber es geſchah nicht alſo. Die erhobenen Arme ſanken und die Herzogin ſah Lucretias ſchöne Geſtalt erbeben, vom tiefſten Jammer erſchüttert. Sie ſtöhnte laut auf, dann machte ſich ihr ein Jugendleben lang ſtolz getragenes Elend Luft und, ſich und ihre fremde Umgebung gänzlich vergeſſend, brach die qualvoll Be¬ drängte in einen Strom leidenſchaftlicher Klage aus.
„Jürg, Jürg,“ rief ſie, „warum haſt Du mir das gethan? Geſpiele meiner Kindheit, Schutz meiner Ju¬ gend! Oft im finſtern italieniſchen Kloſter oder in der unheimlichen Behauſung meines Ohms, wenn mein Herz nach der Heimath ſchrie und ich ſie doch nicht betreten durfte ohne die Rache meines Vaters beſorgt zu haben, dann im bangen Halbtraume ſah ich Dich, den treuen
Meyer, Georg Jenatſch. 12
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Rede des Bündners und der Gewalt ihres Eindrucks
auf Lucretia leicht errathen hatte, daß eine gemeinſam
verlebte Jugend und warme Neigung die Beiden ver¬
kette. Sie glaubte, nach der eigenen Gemüthsſtimmung
urtheilend, Lucretia werde ihre Arme, die ſie einen
Augenblick in inniger Bewegung gegen den Jugend¬
genoſſen erhoben hatte, raſch um ſeinen Hals werfen
und den gerechten, langjährigen Haß gegen den Mörder
ihres Vaters dem Zauber einer alten Liebe und der
Unwiderſtehlichkeit dieſes wunderſamen Mannes zum
Opfer bringen.
Aber es geſchah nicht alſo. Die erhobenen Arme
ſanken und die Herzogin ſah Lucretias ſchöne Geſtalt
erbeben, vom tiefſten Jammer erſchüttert. Sie ſtöhnte
laut auf, dann machte ſich ihr ein Jugendleben lang
ſtolz getragenes Elend Luft und, ſich und ihre fremde
Umgebung gänzlich vergeſſend, brach die qualvoll Be¬
drängte in einen Strom leidenſchaftlicher Klage aus.
„Jürg, Jürg,“ rief ſie, „warum haſt Du mir das
gethan? Geſpiele meiner Kindheit, Schutz meiner Ju¬
gend! Oft im finſtern italieniſchen Kloſter oder in der
unheimlichen Behauſung meines Ohms, wenn mein Herz
nach der Heimath ſchrie und ich ſie doch nicht betreten
durfte ohne die Rache meines Vaters beſorgt zu haben,
dann im bangen Halbtraume ſah ich Dich, den treuen
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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/187>, abgerufen am 25.11.2024.
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