Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Das Glöcklein. Er steht an ihrem Pfühl in herber Qual, Den jungen Busen muß er keuchen sehn -- Er ist ein Arzt. Er weiß, sein traut Gemahl Erblaßt, sobald die Morgenschauer wehn. Sie hat geschlummert. "Lieber, du bei mir? Mir träumte, daß ich auf der Alpe war, Wie schön mir träumte, das erzähl ich dir -- Du schickst mich wieder hin das nächste Jahr! Dort vor dem Dorf -- du weißt den moos'gen Stein -- Saß ich, umhallt von lauter Heerdgetön, An mir vorüber zogen mit Schalmein Die Heerden nieder von den Sommerhöhn. Die Heerden kehren alle heut nach Haus -- Das ist die letzte wohl? Nein, eine noch! Noch ein Geläut klingt an und eins klingt aus! Das endet nicht! Da kam das letzte doch! Mich überfluthet' fliehend Abendroth,
Die Matten dunkelten so grün und rein, Die Firne brannten still -- und lagen todt, Darüber glomm ein leiser Sternenschein -- Das Glöcklein. Er ſteht an ihrem Pfühl in herber Qual, Den jungen Buſen muß er keuchen ſehn — Er iſt ein Arzt. Er weiß, ſein traut Gemahl Erblaßt, ſobald die Morgenſchauer wehn. Sie hat geſchlummert. „Lieber, du bei mir? Mir träumte, daß ich auf der Alpe war, Wie ſchön mir träumte, das erzähl ich dir — Du ſchickſt mich wieder hin das nächſte Jahr! Dort vor dem Dorf — du weißt den mooſ'gen Stein — Saß ich, umhallt von lauter Heerdgetön, An mir vorüber zogen mit Schalmein Die Heerden nieder von den Sommerhöhn. Die Heerden kehren alle heut nach Haus — Das iſt die letzte wohl? Nein, eine noch! Noch ein Geläut klingt an und eins klingt aus! Das endet nicht! Da kam das letzte doch! Mich überfluthet' fliehend Abendroth,
Die Matten dunkelten ſo grün und rein, Die Firne brannten ſtill — und lagen todt, Darüber glomm ein leiſer Sternenſchein — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="78" facs="#f0092"/> </div> <div n="2"> <head>Das Glöcklein.<lb/></head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Er ſteht an ihrem Pfühl in herber Qual,</l><lb/> <l>Den jungen Buſen muß er keuchen ſehn —</l><lb/> <l>Er iſt ein Arzt. Er weiß, ſein traut Gemahl</l><lb/> <l>Erblaßt, ſobald die Morgenſchauer wehn.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Sie hat <choice><sic>geſchlummmert</sic></choice><corr>geſchlummert</corr>. „Lieber, du bei mir?</l><lb/> <l>Mir träumte, daß ich auf der Alpe war,</l><lb/> <l>Wie ſchön mir träumte, das erzähl ich dir —</l><lb/> <l>Du ſchickſt mich wieder hin das nächſte Jahr!</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>Dort vor dem Dorf — du weißt den mooſ'gen Stein —</l><lb/> <l>Saß ich, umhallt von lauter Heerdgetön,</l><lb/> <l>An mir vorüber zogen mit Schalmein</l><lb/> <l>Die Heerden nieder von den Sommerhöhn.</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Die Heerden kehren alle heut nach Haus —</l><lb/> <l>Das iſt die letzte wohl? Nein, eine noch!</l><lb/> <l>Noch ein Geläut klingt an und eins klingt aus!</l><lb/> <l>Das endet nicht! Da kam das letzte doch!</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Mich überfluthet' fliehend Abendroth,</l><lb/> <l>Die Matten dunkelten ſo grün und rein,</l><lb/> <l>Die Firne brannten ſtill — und lagen todt,</l><lb/> <l>Darüber glomm ein leiſer Sternenſchein —</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [78/0092]
Das Glöcklein.
Er ſteht an ihrem Pfühl in herber Qual,
Den jungen Buſen muß er keuchen ſehn —
Er iſt ein Arzt. Er weiß, ſein traut Gemahl
Erblaßt, ſobald die Morgenſchauer wehn.
Sie hat geſchlummert. „Lieber, du bei mir?
Mir träumte, daß ich auf der Alpe war,
Wie ſchön mir träumte, das erzähl ich dir —
Du ſchickſt mich wieder hin das nächſte Jahr!
Dort vor dem Dorf — du weißt den mooſ'gen Stein —
Saß ich, umhallt von lauter Heerdgetön,
An mir vorüber zogen mit Schalmein
Die Heerden nieder von den Sommerhöhn.
Die Heerden kehren alle heut nach Haus —
Das iſt die letzte wohl? Nein, eine noch!
Noch ein Geläut klingt an und eins klingt aus!
Das endet nicht! Da kam das letzte doch!
Mich überfluthet' fliehend Abendroth,
Die Matten dunkelten ſo grün und rein,
Die Firne brannten ſtill — und lagen todt,
Darüber glomm ein leiſer Sternenſchein —
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/92 |
Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/92>, abgerufen am 03.03.2025. |