Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Das weiße Spitzchen. Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald, Das ruft mich, das zieht mich, das thut mir Gewalt: "Was schaffst du noch unten im Menschengewühl? Hier oben ist's einsam! Hier oben ist's kühl! Der See mir zu Füßen hat heut sich enteist, Er kräuselt sich, fluthet, er wandert, er reist, Die Moosbank des Felsens ist dir schon bereit, Von ihr ist's zum ewigen Schnee nicht mehr weit!" Das Spitzchen, es ruft mich, sobald ich erwacht, Am Mittag, am Abend, im Traum noch der Nacht. So komm ich denn morgen! Nun laß mich in Ruh! Erst schließ' ich die Bücher, die Schreine noch zu. Leis wandelt in Lüften ein Heerdegeläut: "Laß offen die Truhen! Komm lieber noch heut." Das weiße Spitzchen. Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald, Das ruft mich, das zieht mich, das thut mir Gewalt: „Was ſchaffſt du noch unten im Menſchengewühl? Hier oben iſt's einſam! Hier oben iſt's kühl! Der See mir zu Füßen hat heut ſich enteiſt, Er kräuſelt ſich, fluthet, er wandert, er reiſt, Die Moosbank des Felſens iſt dir ſchon bereit, Von ihr iſt's zum ewigen Schnee nicht mehr weit!“ Das Spitzchen, es ruft mich, ſobald ich erwacht, Am Mittag, am Abend, im Traum noch der Nacht. So komm ich denn morgen! Nun laß mich in Ruh! Erſt ſchließ' ich die Bücher, die Schreine noch zu. Leis wandelt in Lüften ein Heerdegeläut: „Laß offen die Truhen! Komm lieber noch heut.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0086" n="72"/> </div> <div n="2"> <head>Das weiße Spitzchen.<lb/></head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald,</l><lb/> <l>Das ruft mich, das zieht mich, das thut mir Gewalt:</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>„Was ſchaffſt du noch unten im Menſchengewühl?</l><lb/> <l>Hier oben iſt's einſam! Hier oben iſt's kühl!</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>Der See mir zu Füßen hat heut ſich enteiſt,</l><lb/> <l>Er kräuſelt ſich, fluthet, er wandert, er reiſt,</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Die Moosbank des Felſens iſt dir ſchon bereit,</l><lb/> <l>Von ihr iſt's zum ewigen Schnee nicht mehr weit!“</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>Das Spitzchen, es ruft mich, ſobald ich erwacht,</l><lb/> <l>Am Mittag, am Abend, im Traum noch der Nacht.</l><lb/> </lg> <lg n="6"> <l>So komm ich denn morgen! Nun laß mich in Ruh!</l><lb/> <l>Erſt ſchließ' ich die Bücher, die Schreine noch zu.</l><lb/> </lg> <lg n="7"> <l>Leis wandelt in Lüften ein Heerdegeläut:</l><lb/> <l>„Laß offen die Truhen! Komm lieber noch heut.“</l><lb/> </lg> </lg> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [72/0086]
Das weiße Spitzchen.
Ein blendendes Spitzchen blickt über den Wald,
Das ruft mich, das zieht mich, das thut mir Gewalt:
„Was ſchaffſt du noch unten im Menſchengewühl?
Hier oben iſt's einſam! Hier oben iſt's kühl!
Der See mir zu Füßen hat heut ſich enteiſt,
Er kräuſelt ſich, fluthet, er wandert, er reiſt,
Die Moosbank des Felſens iſt dir ſchon bereit,
Von ihr iſt's zum ewigen Schnee nicht mehr weit!“
Das Spitzchen, es ruft mich, ſobald ich erwacht,
Am Mittag, am Abend, im Traum noch der Nacht.
So komm ich denn morgen! Nun laß mich in Ruh!
Erſt ſchließ' ich die Bücher, die Schreine noch zu.
Leis wandelt in Lüften ein Heerdegeläut:
„Laß offen die Truhen! Komm lieber noch heut.“
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