Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.Michel Angelo. In der Sistine dämmerhohem Raum, Das Bibelbuch in seiner nerv'gen Hand, Sitzt Michel Angelo in wachem Traum, Umhellt von einer kleinen Ampel Brand. Laut spricht hinein er in die Mitternacht, Als lauscht' ein Gast ihm gegenüber hier, Bald wie mit einer allgewalt'gen Macht, Bald wieder wie mit Seinesgleichen schier: "Umfaßt, umgrenzt hab' ich Dich, ewig Sein, Mit meinen großen Linien fünfmal dort! Ich hüllte Dich in lichte Mäntel ein Und gab Dir Leib, wie dieses Bibelwort. Mit weh'nden Haaren stürmst Du feurig wild Von Sonnen immer neuen Sonnen zu, Für Deinen Menschen bist in meinem Bild Entgegenschwebend und barmherzig Du! So schuf ich Dich mit meiner nicht'gen Kraft: Damit ich nicht der größre Künstler sei, Schaff mich -- ich bin ein Knecht der Leidenschaft -- Nach Deinem Bilde schaff mich rein und frei! Den ersten Menschen formtest Du aus Thon, Ich werde schon von härterm Stoffe sein, Da, Meister, brauchst Du Deinen Hammer schon, Bildhauer Gott, schlag zu! Ich bin der Stein. Michel Angelo. In der Siſtine dämmerhohem Raum, Das Bibelbuch in ſeiner nerv'gen Hand, Sitzt Michel Angelo in wachem Traum, Umhellt von einer kleinen Ampel Brand. Laut ſpricht hinein er in die Mitternacht, Als lauſcht' ein Gaſt ihm gegenüber hier, Bald wie mit einer allgewalt'gen Macht, Bald wieder wie mit Seinesgleichen ſchier: „Umfaßt, umgrenzt hab' ich Dich, ewig Sein, Mit meinen großen Linien fünfmal dort! Ich hüllte Dich in lichte Mäntel ein Und gab Dir Leib, wie dieſes Bibelwort. Mit weh'nden Haaren ſtürmſt Du feurig wild Von Sonnen immer neuen Sonnen zu, Für Deinen Menſchen biſt in meinem Bild Entgegenſchwebend und barmherzig Du! So ſchuf ich Dich mit meiner nicht'gen Kraft: Damit ich nicht der größre Künſtler ſei, Schaff mich — ich bin ein Knecht der Leidenſchaft — Nach Deinem Bilde ſchaff mich rein und frei! Den erſten Menſchen formteſt Du aus Thon, Ich werde ſchon von härterm Stoffe ſein, Da, Meiſter, brauchſt Du Deinen Hammer ſchon, Bildhauer Gott, ſchlag zu! Ich bin der Stein. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb n="298" facs="#f0312"/> </div> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Michel Angelo.</hi><lb/> </head> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>In der Siſtine dämmerhohem Raum,</l><lb/> <l>Das Bibelbuch in ſeiner nerv'gen Hand,</l><lb/> <l>Sitzt Michel Angelo in wachem Traum,</l><lb/> <l>Umhellt von einer kleinen Ampel Brand.</l><lb/> </lg> <lg n="2"> <l>Laut ſpricht hinein er in die Mitternacht,</l><lb/> <l>Als lauſcht' ein Gaſt ihm gegenüber hier,</l><lb/> <l>Bald wie mit einer allgewalt'gen Macht,</l><lb/> <l>Bald wieder wie mit Seinesgleichen ſchier:</l><lb/> </lg> <lg n="3"> <l>„Umfaßt, umgrenzt hab' ich Dich, ewig Sein,</l><lb/> <l>Mit meinen großen Linien fünfmal dort!</l><lb/> <l>Ich hüllte Dich in lichte Mäntel ein</l><lb/> <l>Und gab Dir Leib, wie dieſes Bibelwort.</l><lb/> </lg> <lg n="4"> <l>Mit weh'nden Haaren ſtürmſt Du feurig wild</l><lb/> <l>Von Sonnen immer neuen Sonnen zu,</l><lb/> <l>Für Deinen Menſchen biſt in meinem Bild</l><lb/> <l>Entgegenſchwebend und barmherzig Du!</l><lb/> </lg> <lg n="5"> <l>So ſchuf ich Dich mit meiner nicht'gen Kraft:</l><lb/> <l>Damit ich nicht der größre Künſtler ſei,</l><lb/> <l>Schaff mich — ich bin ein Knecht der Leidenſchaft —</l><lb/> <l>Nach Deinem Bilde ſchaff mich rein und frei!</l><lb/> </lg> <lg n="6"> <l>Den erſten Menſchen formteſt Du aus Thon,</l><lb/> <l>Ich werde ſchon von härterm Stoffe ſein,</l><lb/> <l>Da, Meiſter, brauchſt Du Deinen Hammer ſchon,</l><lb/> <l>Bildhauer Gott, ſchlag zu! Ich bin der Stein.</l><lb/> </lg> </lg> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [298/0312]
Michel Angelo.
In der Siſtine dämmerhohem Raum,
Das Bibelbuch in ſeiner nerv'gen Hand,
Sitzt Michel Angelo in wachem Traum,
Umhellt von einer kleinen Ampel Brand.
Laut ſpricht hinein er in die Mitternacht,
Als lauſcht' ein Gaſt ihm gegenüber hier,
Bald wie mit einer allgewalt'gen Macht,
Bald wieder wie mit Seinesgleichen ſchier:
„Umfaßt, umgrenzt hab' ich Dich, ewig Sein,
Mit meinen großen Linien fünfmal dort!
Ich hüllte Dich in lichte Mäntel ein
Und gab Dir Leib, wie dieſes Bibelwort.
Mit weh'nden Haaren ſtürmſt Du feurig wild
Von Sonnen immer neuen Sonnen zu,
Für Deinen Menſchen biſt in meinem Bild
Entgegenſchwebend und barmherzig Du!
So ſchuf ich Dich mit meiner nicht'gen Kraft:
Damit ich nicht der größre Künſtler ſei,
Schaff mich — ich bin ein Knecht der Leidenſchaft —
Nach Deinem Bilde ſchaff mich rein und frei!
Den erſten Menſchen formteſt Du aus Thon,
Ich werde ſchon von härterm Stoffe ſein,
Da, Meiſter, brauchſt Du Deinen Hammer ſchon,
Bildhauer Gott, ſchlag zu! Ich bin der Stein.
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Zitationshilfe: | Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/312>, abgerufen am 03.03.2025. |