Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.In das Morgen blickt sie voller Graun, Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom, Denn ihr Auge kann das Künft'ge schaun -- Es ist keine von den ird'schen Fraun! Es ist Rom! Es ist die Göttin Rom! Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt Rom die Herrin in versteintem Schmerz, Rom, vor welcher einst die Welt gezagt, Jetzt die wunde, die geschlagne Magd! Leid und Mitleid füllen jedes Herz. Durch die Menge geht ein Flüstern leis, Eine Rede schwirrt und irrt und rauscht, Flutet höher, höher stufenweis, Braust wie Meeresbrandung, füllt den Kreis, Jeder spricht sie mit und Jeder lauscht: "Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch! Wehe! Sie zerreißen Dir das Kleid! Ach wie lange noch, wie lange noch? Stürbest, Göttin Roma, stürbst Du doch! Aber Du bist voll Unsterblichkeit!" In das Morgen blickt ſie voller Graun, Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom, Denn ihr Auge kann das Künft'ge ſchaun — Es iſt keine von den ird'ſchen Fraun! Es iſt Rom! Es iſt die Göttin Rom! Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt Rom die Herrin in verſteintem Schmerz, Rom, vor welcher einſt die Welt gezagt, Jetzt die wunde, die geſchlagne Magd! Leid und Mitleid füllen jedes Herz. Durch die Menge geht ein Flüſtern leis, Eine Rede ſchwirrt und irrt und rauſcht, Flutet höher, höher ſtufenweis, Brauſt wie Meeresbrandung, füllt den Kreis, Jeder ſpricht ſie mit und Jeder lauſcht: „Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch! Wehe! Sie zerreißen Dir das Kleid! Ach wie lange noch, wie lange noch? Stürbeſt, Göttin Roma, ſtürbſt Du doch! Aber Du biſt voll Unſterblichkeit!“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <pb facs="#f0229" n="215"/> <lg n="10"> <l>In das Morgen blickt ſie voller Graun,</l><lb/> <l>Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom,</l><lb/> <l>Denn ihr Auge kann das Künft'ge ſchaun —</l><lb/> <l>Es iſt keine von den ird'ſchen Fraun!</l><lb/> <l>Es iſt Rom! Es iſt die Göttin Rom!</l><lb/> </lg> <lg n="11"> <l>Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt</l><lb/> <l>Rom die Herrin in verſteintem Schmerz,</l><lb/> <l>Rom, vor welcher einſt die Welt gezagt,</l><lb/> <l>Jetzt die wunde, die geſchlagne Magd!</l><lb/> <l>Leid und Mitleid füllen jedes Herz.</l><lb/> </lg> <lg n="12"> <l>Durch die Menge geht ein Flüſtern leis,</l><lb/> <l>Eine Rede ſchwirrt und irrt und rauſcht,</l><lb/> <l>Flutet höher, höher ſtufenweis,</l><lb/> <l>Brauſt wie Meeresbrandung, füllt den Kreis,</l><lb/> <l>Jeder ſpricht ſie mit und Jeder lauſcht:</l><lb/> </lg> <lg n="13"> <l>„Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch!</l><lb/> <l>Wehe! Sie zerreißen Dir das Kleid!</l><lb/> <l>Ach wie lange noch, wie lange noch?</l><lb/> <l>Stürbeſt, Göttin Roma, ſtürbſt Du doch!</l><lb/> <l>Aber Du biſt voll Unſterblichkeit!“</l><lb/> </lg> </lg> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [215/0229]
In das Morgen blickt ſie voller Graun,
Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom,
Denn ihr Auge kann das Künft'ge ſchaun —
Es iſt keine von den ird'ſchen Fraun!
Es iſt Rom! Es iſt die Göttin Rom!
Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt
Rom die Herrin in verſteintem Schmerz,
Rom, vor welcher einſt die Welt gezagt,
Jetzt die wunde, die geſchlagne Magd!
Leid und Mitleid füllen jedes Herz.
Durch die Menge geht ein Flüſtern leis,
Eine Rede ſchwirrt und irrt und rauſcht,
Flutet höher, höher ſtufenweis,
Brauſt wie Meeresbrandung, füllt den Kreis,
Jeder ſpricht ſie mit und Jeder lauſcht:
„Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch!
Wehe! Sie zerreißen Dir das Kleid!
Ach wie lange noch, wie lange noch?
Stürbeſt, Göttin Roma, ſtürbſt Du doch!
Aber Du biſt voll Unſterblichkeit!“
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |