Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Gesang der Parze.
In der Wiege schlummert ein schönes Römerkind,
Die Parze sitzt daneben und spinnt und spinnt.
Sonst schweigt sie streng. Ist die lauschende Mutter fort,
So singt die Parze murmelnd ein dunkles Wort:
Jetzt liegst du, Kindlein, noch in der Traumesruh.
Bald, kleine Claudia, spinnest am Rocken du --
Du wachsest rasch und entwächst den Kleidlein bald!
Du wachsest schlank! Du wirst eine Wohlgestalt!
Die Fackel lodert und wirft einen grellen Schein,
Sie kleiden dich mit dem Hochzeitsschleier ein!
Die Knaben hüpfen empor am Festgelag
Und scherzen ausgelassen zum ernsten Tag.
Eine Herrin wandelt in ihrem eignen Raum,
Und ihre Mägd' und die Sklaven athmen kaum.
Ihr ziemt daß all die Hände geflügelt sind.
Ihr ziemt daß all die Lippen gezügelt sind.
Die blühenden Horen schwingen im Reigen sich:
Dir ward ein Knabe, Julier, freue dich!
Doch wann die Freude schwebt und die Flöte schallt,
Dann -- sagt die Parze -- kommt der Jammer bald.
Der Geſang der Parze.
In der Wiege ſchlummert ein ſchönes Römerkind,
Die Parze ſitzt daneben und ſpinnt und ſpinnt.
Sonſt ſchweigt ſie ſtreng. Iſt die lauſchende Mutter fort,
So ſingt die Parze murmelnd ein dunkles Wort:
Jetzt liegſt du, Kindlein, noch in der Traumesruh.
Bald, kleine Claudia, ſpinneſt am Rocken du —
Du wachſeſt raſch und entwächſt den Kleidlein bald!
Du wachſeſt ſchlank! Du wirſt eine Wohlgeſtalt!
Die Fackel lodert und wirft einen grellen Schein,
Sie kleiden dich mit dem Hochzeitsſchleier ein!
Die Knaben hüpfen empor am Feſtgelag
Und ſcherzen ausgelaſſen zum ernſten Tag.
Eine Herrin wandelt in ihrem eignen Raum,
Und ihre Mägd' und die Sklaven athmen kaum.
Ihr ziemt daß all die Hände geflügelt ſind.
Ihr ziemt daß all die Lippen gezügelt ſind.
Die blühenden Horen ſchwingen im Reigen ſich:
Dir ward ein Knabe, Julier, freue dich!
Doch wann die Freude ſchwebt und die Flöte ſchallt,
Dann — ſagt die Parze — kommt der Jammer bald.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0214" n="200"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head>Der Ge&#x017F;ang der Parze.<lb/></head>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>In der Wiege &#x017F;chlummert ein &#x017F;chönes Römerkind,</l><lb/>
              <l>Die Parze &#x017F;itzt daneben und &#x017F;pinnt und &#x017F;pinnt.</l><lb/>
              <l>Son&#x017F;t &#x017F;chweigt &#x017F;ie &#x017F;treng. I&#x017F;t die lau&#x017F;chende Mutter fort,</l><lb/>
              <l>So &#x017F;ingt die Parze murmelnd ein dunkles Wort:</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="2">
              <l>Jetzt lieg&#x017F;t du, Kindlein, noch in der Traumesruh.</l><lb/>
              <l>Bald, kleine Claudia, &#x017F;pinne&#x017F;t am Rocken du &#x2014;</l><lb/>
              <l>Du wach&#x017F;e&#x017F;t ra&#x017F;ch und entwäch&#x017F;t den Kleidlein bald!</l><lb/>
              <l>Du wach&#x017F;e&#x017F;t &#x017F;chlank! Du wir&#x017F;t eine Wohlge&#x017F;talt!</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="3">
              <l>Die Fackel lodert und wirft einen grellen Schein,</l><lb/>
              <l>Sie kleiden dich mit dem Hochzeits&#x017F;chleier ein!</l><lb/>
              <l>Die Knaben hüpfen empor am Fe&#x017F;tgelag</l><lb/>
              <l>Und &#x017F;cherzen ausgela&#x017F;&#x017F;en zum ern&#x017F;ten Tag.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="4">
              <l>Eine Herrin wandelt in ihrem eignen Raum,</l><lb/>
              <l>Und ihre Mägd' und die Sklaven athmen kaum.</l><lb/>
              <l>Ihr ziemt daß all die Hände geflügelt &#x017F;ind.</l><lb/>
              <l>Ihr ziemt daß all die Lippen gezügelt &#x017F;ind.</l><lb/>
            </lg>
            <lg n="5">
              <l>Die blühenden Horen &#x017F;chwingen im Reigen &#x017F;ich:</l><lb/>
              <l>Dir ward ein Knabe, Julier, freue dich!</l><lb/>
              <l>Doch wann die Freude &#x017F;chwebt und die Flöte &#x017F;challt,</l><lb/>
              <l>Dann &#x2014; &#x017F;agt die Parze &#x2014; kommt der Jammer bald.</l><lb/>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0214] Der Geſang der Parze. In der Wiege ſchlummert ein ſchönes Römerkind, Die Parze ſitzt daneben und ſpinnt und ſpinnt. Sonſt ſchweigt ſie ſtreng. Iſt die lauſchende Mutter fort, So ſingt die Parze murmelnd ein dunkles Wort: Jetzt liegſt du, Kindlein, noch in der Traumesruh. Bald, kleine Claudia, ſpinneſt am Rocken du — Du wachſeſt raſch und entwächſt den Kleidlein bald! Du wachſeſt ſchlank! Du wirſt eine Wohlgeſtalt! Die Fackel lodert und wirft einen grellen Schein, Sie kleiden dich mit dem Hochzeitsſchleier ein! Die Knaben hüpfen empor am Feſtgelag Und ſcherzen ausgelaſſen zum ernſten Tag. Eine Herrin wandelt in ihrem eignen Raum, Und ihre Mägd' und die Sklaven athmen kaum. Ihr ziemt daß all die Hände geflügelt ſind. Ihr ziemt daß all die Lippen gezügelt ſind. Die blühenden Horen ſchwingen im Reigen ſich: Dir ward ein Knabe, Julier, freue dich! Doch wann die Freude ſchwebt und die Flöte ſchallt, Dann — ſagt die Parze — kommt der Jammer bald.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/214
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/214>, abgerufen am 18.11.2024.