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Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882.

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Venedig.
Venedig, einen Winter lebt' ich dort --
Paläste, Brücken, der Lagune Duft!
Doch hier im harten Licht der Gegenwart
Verdämmert mälig mir die Märchenwelt.
Vielleicht vergaß ich einen Tizian.
Ein Frevel! Jenen doch vergaß ich nicht,
Wo über einem Sturm von Armen sich
Die Jungfrau feurig in die Himmel hebt,
So wenig als den andern Tizian --
Doch kein gemalter war's -- die Wirklichkeit:
Am Quai, dem nächt'gen, der Slavonen war's.
Im Dunkel stand ich. Fenster schimmerten.
Zwei dürft'ge Frauen kamen hergerannt.
Hart an die Scheibe preßt' das junge Weib
Die bleiche Stirn. Was drinnen sie erblickt,
Das sie erstarren machte, weiß ich nicht.
(Vielleicht den Herzgeliebten, welcher sie
An eines andern Weibes Brust verrieth.)
Ich aber sah den feinsten Mädchenkopf
Vom Tod entfärbt! Ein Antlitz voller Tod!
Die Mutter führte weg die Schwankende ...
Die beiden Tiziane blieben mir
Stets gegenwärtig; löschen sie, so lischt
Die Göttin vor dem armen Menschenkind.

Venedig.
Venedig, einen Winter lebt' ich dort —
Paläſte, Brücken, der Lagune Duft!
Doch hier im harten Licht der Gegenwart
Verdämmert mälig mir die Märchenwelt.
Vielleicht vergaß ich einen Tizian.
Ein Frevel! Jenen doch vergaß ich nicht,
Wo über einem Sturm von Armen ſich
Die Jungfrau feurig in die Himmel hebt,
So wenig als den andern Tizian —
Doch kein gemalter war's — die Wirklichkeit:
Am Quai, dem nächt'gen, der Slavonen war's.
Im Dunkel ſtand ich. Fenſter ſchimmerten.
Zwei dürft'ge Frauen kamen hergerannt.
Hart an die Scheibe preßt' das junge Weib
Die bleiche Stirn. Was drinnen ſie erblickt,
Das ſie erſtarren machte, weiß ich nicht.
(Vielleicht den Herzgeliebten, welcher ſie
An eines andern Weibes Bruſt verrieth.)
Ich aber ſah den feinſten Mädchenkopf
Vom Tod entfärbt! Ein Antlitz voller Tod!
Die Mutter führte weg die Schwankende ...
Die beiden Tiziane blieben mir
Stets gegenwärtig; löſchen ſie, ſo liſcht
Die Göttin vor dem armen Menſchenkind.

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[120/0134] Venedig. Venedig, einen Winter lebt' ich dort — Paläſte, Brücken, der Lagune Duft! Doch hier im harten Licht der Gegenwart Verdämmert mälig mir die Märchenwelt. Vielleicht vergaß ich einen Tizian. Ein Frevel! Jenen doch vergaß ich nicht, Wo über einem Sturm von Armen ſich Die Jungfrau feurig in die Himmel hebt, So wenig als den andern Tizian — Doch kein gemalter war's — die Wirklichkeit: Am Quai, dem nächt'gen, der Slavonen war's. Im Dunkel ſtand ich. Fenſter ſchimmerten. Zwei dürft'ge Frauen kamen hergerannt. Hart an die Scheibe preßt' das junge Weib Die bleiche Stirn. Was drinnen ſie erblickt, Das ſie erſtarren machte, weiß ich nicht. (Vielleicht den Herzgeliebten, welcher ſie An eines andern Weibes Bruſt verrieth.) Ich aber ſah den feinſten Mädchenkopf Vom Tod entfärbt! Ein Antlitz voller Tod! Die Mutter führte weg die Schwankende ... Die beiden Tiziane blieben mir Stets gegenwärtig; löſchen ſie, ſo liſcht Die Göttin vor dem armen Menſchenkind.

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Gedichte. Leipzig, 1882, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_gedichte_1882/134>, abgerufen am 22.12.2024.