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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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noch durchgängig. Nach ihm mußte man sich schon
bestreben, sich kürzer, deutlicher und geistreicher aus¬
zudrücken. Besonders über die spätern Dichtungen
verbreitete sich eine größre Helle. Die Umständlich¬
keit wurde lästig und lächerlich. Lessing räumte scharf,
keck und ein wenig grausam in der Literatur auf,
wie Napoleon in der Politik. Dem schnellkräftigsten
Verstande folgte der Sieg. Nach Lessing wurde die
ganze deutsche Schriftstellerwelt klüger, besonnener;
sie mußte sich mehr anstrengen, und gewann dadurch
auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht
mehr in gutmüthiger Dummdreistigkeit in den Tag
hineinschreiben, man mußte denken, wählen, feilen.
Erhielt der Verstand Anfangs vielleicht ein zu großes
Übergewicht, so war dies wohl natürlich, da ein
Extrem immer das andre weckt. Im Gegensatz gegen
den frühern Aberwitz konnte sich wohl der Verstand
auf Kosten des Gemüths ein wenig überschätzen. Les¬
sing's Schriften selbst wehen uns statt mit poetischer
Wärme sehr oft nur wie ein kalter schneidender Nord¬
ost an, seine Sophistik erstickt zuweilen das Gefühl,
und weckt Gedanken in uns, statt Empfindungen, und
seine glänzenden Sentenzen und Antithesen stören die
poetische Illusion. Auch eine Menge norddeutscher
Dichter nach ihm haben zu sehr dem Verstande ge¬
huldigt und das Gemüth darüber vernachlässigt. Ab¬
gesehn von diesen Übertreibungen aber war Lessing's
Wirken höchst segensvoll. Dem Verstande gebührt
sein Recht auch in der Poesie und er allein kann vor

noch durchgaͤngig. Nach ihm mußte man ſich ſchon
beſtreben, ſich kuͤrzer, deutlicher und geiſtreicher aus¬
zudruͤcken. Beſonders uͤber die ſpaͤtern Dichtungen
verbreitete ſich eine groͤßre Helle. Die Umſtaͤndlich¬
keit wurde laͤſtig und laͤcherlich. Leſſing raͤumte ſcharf,
keck und ein wenig grauſam in der Literatur auf,
wie Napoleon in der Politik. Dem ſchnellkraͤftigſten
Verſtande folgte der Sieg. Nach Leſſing wurde die
ganze deutſche Schriftſtellerwelt kluͤger, beſonnener;
ſie mußte ſich mehr anſtrengen, und gewann dadurch
auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht
mehr in gutmuͤthiger Dummdreiſtigkeit in den Tag
hineinſchreiben, man mußte denken, waͤhlen, feilen.
Erhielt der Verſtand Anfangs vielleicht ein zu großes
Übergewicht, ſo war dies wohl natuͤrlich, da ein
Extrem immer das andre weckt. Im Gegenſatz gegen
den fruͤhern Aberwitz konnte ſich wohl der Verſtand
auf Koſten des Gemuͤths ein wenig uͤberſchaͤtzen. Leſ¬
ſing's Schriften ſelbſt wehen uns ſtatt mit poetiſcher
Waͤrme ſehr oft nur wie ein kalter ſchneidender Nord¬
oſt an, ſeine Sophiſtik erſtickt zuweilen das Gefuͤhl,
und weckt Gedanken in uns, ſtatt Empfindungen, und
ſeine glaͤnzenden Sentenzen und Antitheſen ſtoͤren die
poetiſche Illuſion. Auch eine Menge norddeutſcher
Dichter nach ihm haben zu ſehr dem Verſtande ge¬
huldigt und das Gemuͤth daruͤber vernachlaͤſſigt. Ab¬
geſehn von dieſen Übertreibungen aber war Leſſing's
Wirken hoͤchſt ſegensvoll. Dem Verſtande gebuͤhrt
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[86/0096] noch durchgaͤngig. Nach ihm mußte man ſich ſchon beſtreben, ſich kuͤrzer, deutlicher und geiſtreicher aus¬ zudruͤcken. Beſonders uͤber die ſpaͤtern Dichtungen verbreitete ſich eine groͤßre Helle. Die Umſtaͤndlich¬ keit wurde laͤſtig und laͤcherlich. Leſſing raͤumte ſcharf, keck und ein wenig grauſam in der Literatur auf, wie Napoleon in der Politik. Dem ſchnellkraͤftigſten Verſtande folgte der Sieg. Nach Leſſing wurde die ganze deutſche Schriftſtellerwelt kluͤger, beſonnener; ſie mußte ſich mehr anſtrengen, und gewann dadurch auch mehr Kraft und Sicherheit. Man durfte nicht mehr in gutmuͤthiger Dummdreiſtigkeit in den Tag hineinſchreiben, man mußte denken, waͤhlen, feilen. Erhielt der Verſtand Anfangs vielleicht ein zu großes Übergewicht, ſo war dies wohl natuͤrlich, da ein Extrem immer das andre weckt. Im Gegenſatz gegen den fruͤhern Aberwitz konnte ſich wohl der Verſtand auf Koſten des Gemuͤths ein wenig uͤberſchaͤtzen. Leſ¬ ſing's Schriften ſelbſt wehen uns ſtatt mit poetiſcher Waͤrme ſehr oft nur wie ein kalter ſchneidender Nord¬ oſt an, ſeine Sophiſtik erſtickt zuweilen das Gefuͤhl, und weckt Gedanken in uns, ſtatt Empfindungen, und ſeine glaͤnzenden Sentenzen und Antitheſen ſtoͤren die poetiſche Illuſion. Auch eine Menge norddeutſcher Dichter nach ihm haben zu ſehr dem Verſtande ge¬ huldigt und das Gemuͤth daruͤber vernachlaͤſſigt. Ab¬ geſehn von dieſen Übertreibungen aber war Leſſing's Wirken hoͤchſt ſegensvoll. Dem Verſtande gebuͤhrt ſein Recht auch in der Poeſie und er allein kann vor

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/96>, abgerufen am 27.11.2024.