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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Wir wollen jetzt diese drei, dem Geist und We¬
sen nach verschiedene Schulen näher kennen lernen,
und sodann erst auf den zweiten Unterschied überge¬
hen, welcher in der Poesie durch die lyrische, dra¬
matische und epische Form bewirkt wird.

Der Geschmack für antike Poesie gelangte
nach dem dreißigjährigen Kriege zur Alleinherrschaft.
Deutschland gab damals noch manche andre Blöße,
und glich fast in jeder Hinsicht einem offenen Markt
für jede Gattung von Fremden. Die Erinnerung an
eine große Vergangenheit war erloschen, man sah
auf das Mittelalter nur mitleidig herab. Die Ge¬
genwart aber ließ nichts Großes übrig, woran der
Nationalsinn erstarken mochte. Die alte Neugier und
Wundersucht aber war noch übrig und warf sich auf
das Fremde. Der Protestantismus war damals in
Bewegung gesetzt ein fressendes Zornfeuer, in der
Ruhe ein erkältendes nordisches Schneelicht, und
konnte am allerwenigsten eine nationelle Poesie be¬
gründen. Doch mit dem Studium der Alten, das er
für Verstandeszwecke begünstigte, kam auch ungeru¬
fen die Muse. Auf der katholischen Seite war eben¬
falls die zeugende Kraft ausgetilgt, der alte Uranus
vom abtrünnigen Sohn entmannt, und die Jesuiten
konnten dem Protestantismus nur mit den von dem¬
selben geborgten Waffen der Gelehrsamkeit und des
Geschmacks die Spitze bieten. So wurden auf den
katholischen wie auf den protestantischen Schulen die
alten Classiker als Canon des Geschmacks gepflegt.

Wir wollen jetzt dieſe drei, dem Geiſt und We¬
ſen nach verſchiedene Schulen naͤher kennen lernen,
und ſodann erſt auf den zweiten Unterſchied uͤberge¬
hen, welcher in der Poeſie durch die lyriſche, dra¬
matiſche und epiſche Form bewirkt wird.

Der Geſchmack fuͤr antike Poeſie gelangte
nach dem dreißigjaͤhrigen Kriege zur Alleinherrſchaft.
Deutſchland gab damals noch manche andre Bloͤße,
und glich faſt in jeder Hinſicht einem offenen Markt
fuͤr jede Gattung von Fremden. Die Erinnerung an
eine große Vergangenheit war erloſchen, man ſah
auf das Mittelalter nur mitleidig herab. Die Ge¬
genwart aber ließ nichts Großes uͤbrig, woran der
Nationalſinn erſtarken mochte. Die alte Neugier und
Wunderſucht aber war noch uͤbrig und warf ſich auf
das Fremde. Der Proteſtantismus war damals in
Bewegung geſetzt ein freſſendes Zornfeuer, in der
Ruhe ein erkaͤltendes nordiſches Schneelicht, und
konnte am allerwenigſten eine nationelle Poeſie be¬
gruͤnden. Doch mit dem Studium der Alten, das er
fuͤr Verſtandeszwecke beguͤnſtigte, kam auch ungeru¬
fen die Muſe. Auf der katholiſchen Seite war eben¬
falls die zeugende Kraft ausgetilgt, der alte Uranus
vom abtruͤnnigen Sohn entmannt, und die Jeſuiten
konnten dem Proteſtantismus nur mit den von dem¬
ſelben geborgten Waffen der Gelehrſamkeit und des
Geſchmacks die Spitze bieten. So wurden auf den
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[71/0081] Wir wollen jetzt dieſe drei, dem Geiſt und We¬ ſen nach verſchiedene Schulen naͤher kennen lernen, und ſodann erſt auf den zweiten Unterſchied uͤberge¬ hen, welcher in der Poeſie durch die lyriſche, dra¬ matiſche und epiſche Form bewirkt wird. Der Geſchmack fuͤr antike Poeſie gelangte nach dem dreißigjaͤhrigen Kriege zur Alleinherrſchaft. Deutſchland gab damals noch manche andre Bloͤße, und glich faſt in jeder Hinſicht einem offenen Markt fuͤr jede Gattung von Fremden. Die Erinnerung an eine große Vergangenheit war erloſchen, man ſah auf das Mittelalter nur mitleidig herab. Die Ge¬ genwart aber ließ nichts Großes uͤbrig, woran der Nationalſinn erſtarken mochte. Die alte Neugier und Wunderſucht aber war noch uͤbrig und warf ſich auf das Fremde. Der Proteſtantismus war damals in Bewegung geſetzt ein freſſendes Zornfeuer, in der Ruhe ein erkaͤltendes nordiſches Schneelicht, und konnte am allerwenigſten eine nationelle Poeſie be¬ gruͤnden. Doch mit dem Studium der Alten, das er fuͤr Verſtandeszwecke beguͤnſtigte, kam auch ungeru¬ fen die Muſe. Auf der katholiſchen Seite war eben¬ falls die zeugende Kraft ausgetilgt, der alte Uranus vom abtruͤnnigen Sohn entmannt, und die Jeſuiten konnten dem Proteſtantismus nur mit den von dem¬ ſelben geborgten Waffen der Gelehrſamkeit und des Geſchmacks die Spitze bieten. So wurden auf den katholiſchen wie auf den proteſtantiſchen Schulen die alten Claſſiker als Canon des Geſchmacks gepflegt.

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/81>, abgerufen am 29.11.2024.