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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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genau zu unterscheiden. Wie im großen Römerreich
die Völker, so haben sich in unsrem poetischen Reich
die Dichtungsarten vermischt. Von jeder ist etwas
auf die andre übergegangen, indem theils einzelne
Dichter im universellsten Bestreben alle Rollen durch¬
gemacht, theils abwechselnd ein ganzer poetischer Zeit¬
raum von einer Mode beherrscht worden ist, deren
charakteristisches Gepräge sich allem aufgedrückt.

Am auffallendsten ist diese Vermischung in Rück¬
sicht auf den Unterschied des Alterthümlichen aller
Art, dessen Erinnerung durch die gelehrten Forschun¬
gen der Philologie und Geschichte den Dichtern mit¬
getheilt werden, und des Modernen, das jedem Dich¬
ter der Augenschein, die eigne Erfahrung, Sitte,
Natur einprägt. Wir unterscheiden darnach im All¬
gemeinen gelehrte Dichter und Naturdichter, oder
solche, die Stoff und Behandlungsweise der Poesie
aus dem Studium der Vergangenheit entlehnen, und
solche, die sie nur aus der Gegenwart entlehnen.
Aber dieser Gegensatz ist nicht scharf beobachtet. Die
gelehrten Dichter können niemals ihre Natur ver¬
läugnen, und wie sehr z.B. ein Voß sich bestreben
mag, ein alter Grieche zu werden, er bleibt immer
ein ungeschlachter niedersächsischer Bauer. Eben so
mischen sich in die Nachahmungen der alten Ritter¬
poesie, und in jede Darstellung der Vorzeit die Ge¬
sinnungen und Eigenheiten der modernen Welt un¬
willkürlich ein. Auf der andern Seite können sich
aber auch die modernen Naturdichter niemals ganz

genau zu unterſcheiden. Wie im großen Roͤmerreich
die Voͤlker, ſo haben ſich in unſrem poetiſchen Reich
die Dichtungsarten vermiſcht. Von jeder iſt etwas
auf die andre uͤbergegangen, indem theils einzelne
Dichter im univerſellſten Beſtreben alle Rollen durch¬
gemacht, theils abwechſelnd ein ganzer poetiſcher Zeit¬
raum von einer Mode beherrſcht worden iſt, deren
charakteriſtiſches Gepraͤge ſich allem aufgedruͤckt.

Am auffallendſten iſt dieſe Vermiſchung in Ruͤck¬
ſicht auf den Unterſchied des Alterthuͤmlichen aller
Art, deſſen Erinnerung durch die gelehrten Forſchun¬
gen der Philologie und Geſchichte den Dichtern mit¬
getheilt werden, und des Modernen, das jedem Dich¬
ter der Augenſchein, die eigne Erfahrung, Sitte,
Natur einpraͤgt. Wir unterſcheiden darnach im All¬
gemeinen gelehrte Dichter und Naturdichter, oder
ſolche, die Stoff und Behandlungsweiſe der Poeſie
aus dem Studium der Vergangenheit entlehnen, und
ſolche, die ſie nur aus der Gegenwart entlehnen.
Aber dieſer Gegenſatz iſt nicht ſcharf beobachtet. Die
gelehrten Dichter koͤnnen niemals ihre Natur ver¬
laͤugnen, und wie ſehr z.B. ein Voß ſich beſtreben
mag, ein alter Grieche zu werden, er bleibt immer
ein ungeſchlachter niederſaͤchſiſcher Bauer. Eben ſo
miſchen ſich in die Nachahmungen der alten Ritter¬
poeſie, und in jede Darſtellung der Vorzeit die Ge¬
ſinnungen und Eigenheiten der modernen Welt un¬
willkuͤrlich ein. Auf der andern Seite koͤnnen ſich
aber auch die modernen Naturdichter niemals ganz

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[66/0076] genau zu unterſcheiden. Wie im großen Roͤmerreich die Voͤlker, ſo haben ſich in unſrem poetiſchen Reich die Dichtungsarten vermiſcht. Von jeder iſt etwas auf die andre uͤbergegangen, indem theils einzelne Dichter im univerſellſten Beſtreben alle Rollen durch¬ gemacht, theils abwechſelnd ein ganzer poetiſcher Zeit¬ raum von einer Mode beherrſcht worden iſt, deren charakteriſtiſches Gepraͤge ſich allem aufgedruͤckt. Am auffallendſten iſt dieſe Vermiſchung in Ruͤck¬ ſicht auf den Unterſchied des Alterthuͤmlichen aller Art, deſſen Erinnerung durch die gelehrten Forſchun¬ gen der Philologie und Geſchichte den Dichtern mit¬ getheilt werden, und des Modernen, das jedem Dich¬ ter der Augenſchein, die eigne Erfahrung, Sitte, Natur einpraͤgt. Wir unterſcheiden darnach im All¬ gemeinen gelehrte Dichter und Naturdichter, oder ſolche, die Stoff und Behandlungsweiſe der Poeſie aus dem Studium der Vergangenheit entlehnen, und ſolche, die ſie nur aus der Gegenwart entlehnen. Aber dieſer Gegenſatz iſt nicht ſcharf beobachtet. Die gelehrten Dichter koͤnnen niemals ihre Natur ver¬ laͤugnen, und wie ſehr z.B. ein Voß ſich beſtreben mag, ein alter Grieche zu werden, er bleibt immer ein ungeſchlachter niederſaͤchſiſcher Bauer. Eben ſo miſchen ſich in die Nachahmungen der alten Ritter¬ poeſie, und in jede Darſtellung der Vorzeit die Ge¬ ſinnungen und Eigenheiten der modernen Welt un¬ willkuͤrlich ein. Auf der andern Seite koͤnnen ſich aber auch die modernen Naturdichter niemals ganz

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/76>, abgerufen am 29.11.2024.