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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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gingen nicht über den Kreis der Nationalität hinaus,
Shakspeare zauberte schon die ganze Welt in seine
Dichtungen, doch sie trugen durchaus den Stempel
einer englischen und seiner Individualität. Unsere
neuere Dichter aber nehmen mit dem fremden Ge¬
genstand auch die fremde Ansicht desselben an, zau¬
bern sich nicht nur Griechenland in die nordischen
Wälder, sondern auch eine griechische Denkweise in
ihre nordischen Geister. Dieselbe deutsche Treue, mit
welcher unsre alten Maler die Natur copirten, zeich¬
net jetzt unsre Dichter aus, sofern sie sich an Ver¬
gangnes und Fremdes wenden. Treibt sie die Sehn¬
sucht nach dem alten Hellas, so wollen sie ganz Grie¬
chen seyn, daß sie vor Plato bestehn und von Ari¬
stophanes nicht zu Spott werden. Reizt sie das
Mittelalter, so möchten sie kein Riemchen am Har¬
nisch der alten Ritter, kein Kreuz aus dem Weg au¬
ßer Acht lassen. Kein Volk kann sich so gut in ein
andres hineindenken, als das deutsche. Unsre Dich¬
ter treiben mit diesem Rollenwechsel eine gewisse An¬
dacht. Es ist in der That ein neuer Polytheismus.
Wir machen alles zu Gegenständen der poetischen
Anbetung, und gleichen den alten Heiden vollkommen
in der Toleranz, in welcher sie alle fremden Landes¬
götter, sobald sie die Gränze des Landes übertraten,
zu den ihrigen machten.

Keine Welteroberung war jemals größer, als
welche jetzt unsre Dichter unternehmen. Jeder Win¬
kel der Natur und Geschichte wird von ihnen heim¬

gingen nicht uͤber den Kreis der Nationalitaͤt hinaus,
Shakſpeare zauberte ſchon die ganze Welt in ſeine
Dichtungen, doch ſie trugen durchaus den Stempel
einer engliſchen und ſeiner Individualitaͤt. Unſere
neuere Dichter aber nehmen mit dem fremden Ge¬
genſtand auch die fremde Anſicht deſſelben an, zau¬
bern ſich nicht nur Griechenland in die nordiſchen
Waͤlder, ſondern auch eine griechiſche Denkweiſe in
ihre nordiſchen Geiſter. Dieſelbe deutſche Treue, mit
welcher unſre alten Maler die Natur copirten, zeich¬
net jetzt unſre Dichter aus, ſofern ſie ſich an Ver¬
gangnes und Fremdes wenden. Treibt ſie die Sehn¬
ſucht nach dem alten Hellas, ſo wollen ſie ganz Grie¬
chen ſeyn, daß ſie vor Plato beſtehn und von Ari¬
ſtophanes nicht zu Spott werden. Reizt ſie das
Mittelalter, ſo moͤchten ſie kein Riemchen am Har¬
niſch der alten Ritter, kein Kreuz aus dem Weg au¬
ßer Acht laſſen. Kein Volk kann ſich ſo gut in ein
andres hineindenken, als das deutſche. Unſre Dich¬
ter treiben mit dieſem Rollenwechſel eine gewiſſe An¬
dacht. Es iſt in der That ein neuer Polytheismus.
Wir machen alles zu Gegenſtaͤnden der poetiſchen
Anbetung, und gleichen den alten Heiden vollkommen
in der Toleranz, in welcher ſie alle fremden Landes¬
goͤtter, ſobald ſie die Graͤnze des Landes uͤbertraten,
zu den ihrigen machten.

Keine Welteroberung war jemals groͤßer, als
welche jetzt unſre Dichter unternehmen. Jeder Win¬
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[64/0074] gingen nicht uͤber den Kreis der Nationalitaͤt hinaus, Shakſpeare zauberte ſchon die ganze Welt in ſeine Dichtungen, doch ſie trugen durchaus den Stempel einer engliſchen und ſeiner Individualitaͤt. Unſere neuere Dichter aber nehmen mit dem fremden Ge¬ genſtand auch die fremde Anſicht deſſelben an, zau¬ bern ſich nicht nur Griechenland in die nordiſchen Waͤlder, ſondern auch eine griechiſche Denkweiſe in ihre nordiſchen Geiſter. Dieſelbe deutſche Treue, mit welcher unſre alten Maler die Natur copirten, zeich¬ net jetzt unſre Dichter aus, ſofern ſie ſich an Ver¬ gangnes und Fremdes wenden. Treibt ſie die Sehn¬ ſucht nach dem alten Hellas, ſo wollen ſie ganz Grie¬ chen ſeyn, daß ſie vor Plato beſtehn und von Ari¬ ſtophanes nicht zu Spott werden. Reizt ſie das Mittelalter, ſo moͤchten ſie kein Riemchen am Har¬ niſch der alten Ritter, kein Kreuz aus dem Weg au¬ ßer Acht laſſen. Kein Volk kann ſich ſo gut in ein andres hineindenken, als das deutſche. Unſre Dich¬ ter treiben mit dieſem Rollenwechſel eine gewiſſe An¬ dacht. Es iſt in der That ein neuer Polytheismus. Wir machen alles zu Gegenſtaͤnden der poetiſchen Anbetung, und gleichen den alten Heiden vollkommen in der Toleranz, in welcher ſie alle fremden Landes¬ goͤtter, ſobald ſie die Graͤnze des Landes uͤbertraten, zu den ihrigen machten. Keine Welteroberung war jemals groͤßer, als welche jetzt unſre Dichter unternehmen. Jeder Win¬ kel der Natur und Geſchichte wird von ihnen heim¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/74>, abgerufen am 29.11.2024.