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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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mit Recht eine theatralische nennen, und in ihr ist
in der That so viel von allen frühern poetischen Gat¬
tungen enthalten, als in der Schauspielkunst von
allen andern Künsten aufgenommen ist. Selbst die
einzelnen Dichter unter uns versuchen sich in allen
Gattungen und Formen der Poesie, weil es Rollen
sind, die sie spielen; in der frühern Zeit bildete jeder
Dichter nur eine Gattung eigenthümlich aus.

Die poetische Begeisterung der ersten Menschen
schien die letzte Blüthe der Schöpfung zu entfalten.
Derselbe Naturgeist, der den Bau der Welt gegrün¬
det, spiegelte sich in den Kosmogonien der kindlichen
Völker. Die Poesie war noch nicht losgerissen von
der Natur, sie belebte die Massen, war noch nicht
ausschließliches Eigenthum eines Individuums, sie
vertheilte sich in abweichende Ansichten, wie die Men¬
schen in Stämme, aber sie blieb Eigenthum der Ge¬
nerationen, und wie sie keinem Dichter, sondern dem
Volk angehörte, stellte sie auch keinen Helden, nichts
Einzelnes dar, sondern das Weltganze. Alle ihre
Formen waren architektonisch. Mit dem Heldenthum
riß das Individuum von der Masse sich los und die
Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom
cyclopischen Bau und die Geschichte, die Poesie und
bildende Kunst entfaltete die höchste Blüthe dieses
Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier
war die Dichtkunst eng an die Gegenwart und ihren
herrschenden Charakter gebunden, und was wir clas¬
sisch an ihr nennen, war die strenge Consequenz des

mit Recht eine theatraliſche nennen, und in ihr iſt
in der That ſo viel von allen fruͤhern poetiſchen Gat¬
tungen enthalten, als in der Schauſpielkunſt von
allen andern Kuͤnſten aufgenommen iſt. Selbſt die
einzelnen Dichter unter uns verſuchen ſich in allen
Gattungen und Formen der Poeſie, weil es Rollen
ſind, die ſie ſpielen; in der fruͤhern Zeit bildete jeder
Dichter nur eine Gattung eigenthuͤmlich aus.

Die poetiſche Begeiſterung der erſten Menſchen
ſchien die letzte Bluͤthe der Schoͤpfung zu entfalten.
Derſelbe Naturgeiſt, der den Bau der Welt gegruͤn¬
det, ſpiegelte ſich in den Kosmogonien der kindlichen
Voͤlker. Die Poeſie war noch nicht losgeriſſen von
der Natur, ſie belebte die Maſſen, war noch nicht
ausſchließliches Eigenthum eines Individuums, ſie
vertheilte ſich in abweichende Anſichten, wie die Men¬
ſchen in Staͤmme, aber ſie blieb Eigenthum der Ge¬
nerationen, und wie ſie keinem Dichter, ſondern dem
Volk angehoͤrte, ſtellte ſie auch keinen Helden, nichts
Einzelnes dar, ſondern das Weltganze. Alle ihre
Formen waren architektoniſch. Mit dem Heldenthum
riß das Individuum von der Maſſe ſich los und die
Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom
cyclopiſchen Bau und die Geſchichte, die Poeſie und
bildende Kunſt entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe dieſes
Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier
war die Dichtkunſt eng an die Gegenwart und ihren
herrſchenden Charakter gebunden, und was wir claſ¬
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[59/0069] mit Recht eine theatraliſche nennen, und in ihr iſt in der That ſo viel von allen fruͤhern poetiſchen Gat¬ tungen enthalten, als in der Schauſpielkunſt von allen andern Kuͤnſten aufgenommen iſt. Selbſt die einzelnen Dichter unter uns verſuchen ſich in allen Gattungen und Formen der Poeſie, weil es Rollen ſind, die ſie ſpielen; in der fruͤhern Zeit bildete jeder Dichter nur eine Gattung eigenthuͤmlich aus. Die poetiſche Begeiſterung der erſten Menſchen ſchien die letzte Bluͤthe der Schoͤpfung zu entfalten. Derſelbe Naturgeiſt, der den Bau der Welt gegruͤn¬ det, ſpiegelte ſich in den Kosmogonien der kindlichen Voͤlker. Die Poeſie war noch nicht losgeriſſen von der Natur, ſie belebte die Maſſen, war noch nicht ausſchließliches Eigenthum eines Individuums, ſie vertheilte ſich in abweichende Anſichten, wie die Men¬ ſchen in Staͤmme, aber ſie blieb Eigenthum der Ge¬ nerationen, und wie ſie keinem Dichter, ſondern dem Volk angehoͤrte, ſtellte ſie auch keinen Helden, nichts Einzelnes dar, ſondern das Weltganze. Alle ihre Formen waren architektoniſch. Mit dem Heldenthum riß das Individuum von der Maſſe ſich los und die Helbenfabel von der Kosmogonie, die Natur vom cyclopiſchen Bau und die Geſchichte, die Poeſie und bildende Kunſt entfaltete die hoͤchſte Bluͤthe dieſes Lebens in Griechenland und Rom. Aber auch hier war die Dichtkunſt eng an die Gegenwart und ihren herrſchenden Charakter gebunden, und was wir claſ¬ ſiſch an ihr nennen, war die ſtrenge Conſequenz des

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/69>, abgerufen am 30.11.2024.