Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

Im Getümmel dieses Tages, im Glänzen und
Flimmern so vieler blendender Erscheinungen, im Wech¬
seln und Wogen der Namen und Moden ist es schwer,
eine richtige Charakteristik des ganzen neuen poeti¬
schen Treibens zu entwerfen. Die Gegenwart übt
einen gewissen Zauber über uns, sie blendet uns selbst
mit kleinen Lichtern durch die Nähe derselben. Leicht
werden wir verführt, bei einem Gegenstand die übri¬
gen zu vergessen, sey es, daß er uns gebieterisch aus¬
schließliche Bewunderung und Anbetung abzwingt,
oder daß wir uns an ihm festzuhalten suchen, um in
der allgemeinen Verwirrung nicht zu straucheln, um
wenigstens etwas ganz zu lieben und zu besitzen, da
unser Interesse sonst zu sehr zersplittert würde. Auf
diese Weise sind einseitige Meinungen und Urtheile
über die neuere Poesie sehr häufig geworden. Man
kann ihnen in der That nicht entgehn, wenn man
sich nicht über die Verwirrung hinausschwingt und
auf der Höhe der Geschichte einen freien Standpunkt
zur Übersicht gewinnt, wenn man sich nicht aus der
Gegenwart und von ihren dringenden, hastigen, wi¬
dersprechenden Anforderungen befreit, und in die Ver¬
gangenheit flüchtet, um an dieser die Gegenwart zu
messen.

Wir müssen die Geschichte der Poesie bis zu die¬
ser letzten Entwicklung verfolgen. Die Poesie hat
schon viele große Perioden erlebt, bevor sie zu dieser
letzten übergegangen ist. In jeder dieser Perioden
ging eine Verwandlung in ihr vor, bildete sie sich

Im Getuͤmmel dieſes Tages, im Glaͤnzen und
Flimmern ſo vieler blendender Erſcheinungen, im Wech¬
ſeln und Wogen der Namen und Moden iſt es ſchwer,
eine richtige Charakteriſtik des ganzen neuen poeti¬
ſchen Treibens zu entwerfen. Die Gegenwart uͤbt
einen gewiſſen Zauber uͤber uns, ſie blendet uns ſelbſt
mit kleinen Lichtern durch die Naͤhe derſelben. Leicht
werden wir verfuͤhrt, bei einem Gegenſtand die uͤbri¬
gen zu vergeſſen, ſey es, daß er uns gebieteriſch aus¬
ſchließliche Bewunderung und Anbetung abzwingt,
oder daß wir uns an ihm feſtzuhalten ſuchen, um in
der allgemeinen Verwirrung nicht zu ſtraucheln, um
wenigſtens etwas ganz zu lieben und zu beſitzen, da
unſer Intereſſe ſonſt zu ſehr zerſplittert wuͤrde. Auf
dieſe Weiſe ſind einſeitige Meinungen und Urtheile
uͤber die neuere Poeſie ſehr haͤufig geworden. Man
kann ihnen in der That nicht entgehn, wenn man
ſich nicht uͤber die Verwirrung hinausſchwingt und
auf der Hoͤhe der Geſchichte einen freien Standpunkt
zur Überſicht gewinnt, wenn man ſich nicht aus der
Gegenwart und von ihren dringenden, haſtigen, wi¬
derſprechenden Anforderungen befreit, und in die Ver¬
gangenheit fluͤchtet, um an dieſer die Gegenwart zu
meſſen.

Wir muͤſſen die Geſchichte der Poeſie bis zu die¬
ſer letzten Entwicklung verfolgen. Die Poeſie hat
ſchon viele große Perioden erlebt, bevor ſie zu dieſer
letzten uͤbergegangen iſt. In jeder dieſer Perioden
ging eine Verwandlung in ihr vor, bildete ſie ſich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0067" n="57"/>
        <p>Im Getu&#x0364;mmel die&#x017F;es Tages, im Gla&#x0364;nzen und<lb/>
Flimmern &#x017F;o vieler blendender Er&#x017F;cheinungen, im Wech¬<lb/>
&#x017F;eln und Wogen der Namen und Moden i&#x017F;t es &#x017F;chwer,<lb/>
eine richtige Charakteri&#x017F;tik des ganzen neuen poeti¬<lb/>
&#x017F;chen Treibens zu entwerfen. Die Gegenwart u&#x0364;bt<lb/>
einen gewi&#x017F;&#x017F;en Zauber u&#x0364;ber uns, &#x017F;ie blendet uns &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
mit kleinen Lichtern durch die Na&#x0364;he der&#x017F;elben. Leicht<lb/>
werden wir verfu&#x0364;hrt, bei einem Gegen&#x017F;tand die u&#x0364;bri¬<lb/>
gen zu verge&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ey es, daß er uns gebieteri&#x017F;ch aus¬<lb/>
&#x017F;chließliche Bewunderung und Anbetung abzwingt,<lb/>
oder daß wir uns an ihm fe&#x017F;tzuhalten &#x017F;uchen, um in<lb/>
der allgemeinen Verwirrung nicht zu &#x017F;traucheln, um<lb/>
wenig&#x017F;tens etwas ganz zu lieben und zu be&#x017F;itzen, da<lb/>
un&#x017F;er Intere&#x017F;&#x017F;e &#x017F;on&#x017F;t zu &#x017F;ehr zer&#x017F;plittert wu&#x0364;rde. Auf<lb/>
die&#x017F;e Wei&#x017F;e &#x017F;ind ein&#x017F;eitige Meinungen und Urtheile<lb/>
u&#x0364;ber die neuere Poe&#x017F;ie &#x017F;ehr ha&#x0364;ufig geworden. Man<lb/>
kann ihnen in der That nicht entgehn, wenn man<lb/>
&#x017F;ich nicht u&#x0364;ber die Verwirrung hinaus&#x017F;chwingt und<lb/>
auf der Ho&#x0364;he der Ge&#x017F;chichte einen freien Standpunkt<lb/>
zur Über&#x017F;icht gewinnt, wenn man &#x017F;ich nicht aus der<lb/>
Gegenwart und von ihren dringenden, ha&#x017F;tigen, wi¬<lb/>
der&#x017F;prechenden Anforderungen befreit, und in die Ver¬<lb/>
gangenheit flu&#x0364;chtet, um an die&#x017F;er die Gegenwart zu<lb/>
me&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die Ge&#x017F;chichte der Poe&#x017F;ie bis zu die¬<lb/>
&#x017F;er letzten Entwicklung verfolgen. Die Poe&#x017F;ie hat<lb/>
&#x017F;chon viele große Perioden erlebt, bevor &#x017F;ie zu die&#x017F;er<lb/>
letzten u&#x0364;bergegangen i&#x017F;t. In jeder die&#x017F;er Perioden<lb/>
ging eine Verwandlung in ihr vor, bildete &#x017F;ie &#x017F;ich<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[57/0067] Im Getuͤmmel dieſes Tages, im Glaͤnzen und Flimmern ſo vieler blendender Erſcheinungen, im Wech¬ ſeln und Wogen der Namen und Moden iſt es ſchwer, eine richtige Charakteriſtik des ganzen neuen poeti¬ ſchen Treibens zu entwerfen. Die Gegenwart uͤbt einen gewiſſen Zauber uͤber uns, ſie blendet uns ſelbſt mit kleinen Lichtern durch die Naͤhe derſelben. Leicht werden wir verfuͤhrt, bei einem Gegenſtand die uͤbri¬ gen zu vergeſſen, ſey es, daß er uns gebieteriſch aus¬ ſchließliche Bewunderung und Anbetung abzwingt, oder daß wir uns an ihm feſtzuhalten ſuchen, um in der allgemeinen Verwirrung nicht zu ſtraucheln, um wenigſtens etwas ganz zu lieben und zu beſitzen, da unſer Intereſſe ſonſt zu ſehr zerſplittert wuͤrde. Auf dieſe Weiſe ſind einſeitige Meinungen und Urtheile uͤber die neuere Poeſie ſehr haͤufig geworden. Man kann ihnen in der That nicht entgehn, wenn man ſich nicht uͤber die Verwirrung hinausſchwingt und auf der Hoͤhe der Geſchichte einen freien Standpunkt zur Überſicht gewinnt, wenn man ſich nicht aus der Gegenwart und von ihren dringenden, haſtigen, wi¬ derſprechenden Anforderungen befreit, und in die Ver¬ gangenheit fluͤchtet, um an dieſer die Gegenwart zu meſſen. Wir muͤſſen die Geſchichte der Poeſie bis zu die¬ ſer letzten Entwicklung verfolgen. Die Poeſie hat ſchon viele große Perioden erlebt, bevor ſie zu dieſer letzten uͤbergegangen iſt. In jeder dieſer Perioden ging eine Verwandlung in ihr vor, bildete ſie ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/67
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/67>, abgerufen am 30.11.2024.