gen theilen. Selbst die Religion ist die Stätte des Friedens nicht, weil ein Glaube den andern aus¬ schließt; nur in der Poesie beruht jener Gottesfrie¬ den, den die wilden Gemüther in heiliger Scheu an¬ erkennen, und der sie mit der Leier des Orpheus bezähmt und die fremdesten Völker und Menschen ver¬ söhnt.
Die Deutschen haben eine angeborne Neigung zur Poesie, ja man kann ihren Nationalcharakter vorzugs¬ weise den dichterischen nennen, da er so schwärme¬ risch, gutmüthig, phantastisch, abergläubisch, warm und gewitterhaft ist. Der Deutsche besitzt ein außer¬ ordentlich zartes und tiefes Gefühl, eine flimmernde Phantasie, einen starken Hang zu Allegorie und Sym¬ bolik, große Gewandtheit in verwickelten Dichtungen, eine Alles fortreißende Flamme der Begeisterung, ei¬ nen seinen Sinn für die Natur und das Idyllische, Familienmäßige, Heimathliche, und fast noch mehr Illusion für das Fremde und Wunderbare. Am au¬ genfälligsten zeigt sich unser poetisches Genie in den Mißbräuchen, die wir damit machen, und die eine Überfülle der Kraft verrathen, in dem Überschweng¬ lichen unsrer eigentlichen Dichtungen und in den poe¬ tischen Ansichten des Lebens, der Natur, der Ge¬ schichte und aller Wissenschaften, die überall vorschla¬ gen und weßhalb wir von den sogenannten praktischen Nationen verhöhnt werden. Auch in die trockenste Wissenschaft mischen wir gerne das Herz, die Begei¬ sterung und orientalische Bilder.
gen theilen. Selbſt die Religion iſt die Staͤtte des Friedens nicht, weil ein Glaube den andern aus¬ ſchließt; nur in der Poeſie beruht jener Gottesfrie¬ den, den die wilden Gemuͤther in heiliger Scheu an¬ erkennen, und der ſie mit der Leier des Orpheus bezaͤhmt und die fremdeſten Voͤlker und Menſchen ver¬ ſoͤhnt.
Die Deutſchen haben eine angeborne Neigung zur Poeſie, ja man kann ihren Nationalcharakter vorzugs¬ weiſe den dichteriſchen nennen, da er ſo ſchwaͤrme¬ riſch, gutmuͤthig, phantaſtiſch, aberglaͤubiſch, warm und gewitterhaft iſt. Der Deutſche beſitzt ein außer¬ ordentlich zartes und tiefes Gefuͤhl, eine flimmernde Phantaſie, einen ſtarken Hang zu Allegorie und Sym¬ bolik, große Gewandtheit in verwickelten Dichtungen, eine Alles fortreißende Flamme der Begeiſterung, ei¬ nen ſeinen Sinn fuͤr die Natur und das Idyllische, Familienmaͤßige, Heimathliche, und faſt noch mehr Illuſion fuͤr das Fremde und Wunderbare. Am au¬ genfaͤlligſten zeigt ſich unſer poetiſches Genie in den Mißbraͤuchen, die wir damit machen, und die eine Überfuͤlle der Kraft verrathen, in dem Überſchweng¬ lichen unſrer eigentlichen Dichtungen und in den poe¬ tiſchen Anſichten des Lebens, der Natur, der Ge¬ ſchichte und aller Wiſſenſchaften, die uͤberall vorſchla¬ gen und weßhalb wir von den ſogenannten praktiſchen Nationen verhoͤhnt werden. Auch in die trockenſte Wiſſenſchaft miſchen wir gerne das Herz, die Begei¬ ſterung und orientaliſche Bilder.
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gen theilen. Selbſt die Religion iſt die Staͤtte des
Friedens nicht, weil ein Glaube den andern aus¬
ſchließt; nur in der Poeſie beruht jener Gottesfrie¬
den, den die wilden Gemuͤther in heiliger Scheu an¬
erkennen, und der ſie mit der Leier des Orpheus
bezaͤhmt und die fremdeſten Voͤlker und Menſchen ver¬
ſoͤhnt.
Die Deutſchen haben eine angeborne Neigung zur
Poeſie, ja man kann ihren Nationalcharakter vorzugs¬
weiſe den dichteriſchen nennen, da er ſo ſchwaͤrme¬
riſch, gutmuͤthig, phantaſtiſch, aberglaͤubiſch, warm
und gewitterhaft iſt. Der Deutſche beſitzt ein außer¬
ordentlich zartes und tiefes Gefuͤhl, eine flimmernde
Phantaſie, einen ſtarken Hang zu Allegorie und Sym¬
bolik, große Gewandtheit in verwickelten Dichtungen,
eine Alles fortreißende Flamme der Begeiſterung, ei¬
nen ſeinen Sinn fuͤr die Natur und das Idyllische,
Familienmaͤßige, Heimathliche, und faſt noch mehr
Illuſion fuͤr das Fremde und Wunderbare. Am au¬
genfaͤlligſten zeigt ſich unſer poetiſches Genie in den
Mißbraͤuchen, die wir damit machen, und die eine
Überfuͤlle der Kraft verrathen, in dem Überſchweng¬
lichen unſrer eigentlichen Dichtungen und in den poe¬
tiſchen Anſichten des Lebens, der Natur, der Ge¬
ſchichte und aller Wiſſenſchaften, die uͤberall vorſchla¬
gen und weßhalb wir von den ſogenannten praktiſchen
Nationen verhoͤhnt werden. Auch in die trockenſte
Wiſſenſchaft miſchen wir gerne das Herz, die Begei¬
ſterung und orientaliſche Bilder.
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/65>, abgerufen am 16.08.2024.
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