Wir gehn zur Poesie über, welche unter allen Künsten für die gegenwärtige Zeit und vielleicht für alle Zeiten die höchste Bedeutung hat. Die Poesie erschließt am tiefsten das menschliche Herz und wirkt wieder am tiefsten. Was keiner Kunst gelingt, das Innerste des Menschen bis in den geheimsten Gedan¬ ken und Empfindungen zu spiegeln, vermag allein die Poesie, und dies gibt ihr die Macht über die mensch¬ liche Seele, der alle Völker gehuldigt haben. Durch diese Offenbarung des Menschlichen ist die Poesie das wirksamste Mittel und zugleich die höchste Blüthe der Humanität. Poetische Völker sind die edelsten und die edelsten werden poetisch. Die Offenbarung schö¬ ner Menschlichkeit in den poetischen Idealen ist die Krone des Lebens. Die Poesie ist aber auch die dauerhafteste unter den Künsten, die unvergänglichste, weil ihre Denkmale auf die leichteste Weise verviel¬ fältigt und immer wieder erneuert werden können. Völker wechseln, Staaten werden zertrümmert, ein Glaube verdrängt den andern, Irrthum wird, was einst als Wahrheit gegolten, die Werke der bilden¬ den Kunst zerfallen in Staub, nur die Dichtungen überdauern die Stürme der Zeit und glänzen noch nach Jahrtausenden im ersten Jugendschimmer. Um alle Zeiten schlingt die Poesie den Kranz, vereinigt und versöhnt alle. Mitten im ewigen Wechsel erhält sich die stille Blumeninsel der Dichtung, der irdische Himmel, wo die matten Seelen Erquickung finden, wo die Urväter und Urenkel die gleichen Entzückun¬
Wir gehn zur Poeſie uͤber, welche unter allen Kuͤnſten fuͤr die gegenwaͤrtige Zeit und vielleicht fuͤr alle Zeiten die hoͤchſte Bedeutung hat. Die Poeſie erſchließt am tiefſten das menſchliche Herz und wirkt wieder am tiefſten. Was keiner Kunſt gelingt, das Innerſte des Menſchen bis in den geheimſten Gedan¬ ken und Empfindungen zu ſpiegeln, vermag allein die Poeſie, und dies gibt ihr die Macht uͤber die menſch¬ liche Seele, der alle Voͤlker gehuldigt haben. Durch dieſe Offenbarung des Menſchlichen iſt die Poeſie das wirkſamſte Mittel und zugleich die hoͤchſte Bluͤthe der Humanitaͤt. Poetiſche Voͤlker ſind die edelſten und die edelſten werden poetiſch. Die Offenbarung ſchoͤ¬ ner Menſchlichkeit in den poetiſchen Idealen iſt die Krone des Lebens. Die Poeſie iſt aber auch die dauerhafteſte unter den Kuͤnſten, die unvergaͤnglichſte, weil ihre Denkmale auf die leichteſte Weiſe verviel¬ faͤltigt und immer wieder erneuert werden koͤnnen. Voͤlker wechſeln, Staaten werden zertruͤmmert, ein Glaube verdraͤngt den andern, Irrthum wird, was einſt als Wahrheit gegolten, die Werke der bilden¬ den Kunſt zerfallen in Staub, nur die Dichtungen uͤberdauern die Stuͤrme der Zeit und glaͤnzen noch nach Jahrtauſenden im erſten Jugendſchimmer. Um alle Zeiten ſchlingt die Poeſie den Kranz, vereinigt und verſoͤhnt alle. Mitten im ewigen Wechſel erhaͤlt ſich die ſtille Blumeninſel der Dichtung, der irdiſche Himmel, wo die matten Seelen Erquickung finden, wo die Urvaͤter und Urenkel die gleichen Entzuͤckun¬
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Wir gehn zur Poeſie uͤber, welche unter allen
Kuͤnſten fuͤr die gegenwaͤrtige Zeit und vielleicht fuͤr
alle Zeiten die hoͤchſte Bedeutung hat. Die Poeſie
erſchließt am tiefſten das menſchliche Herz und wirkt
wieder am tiefſten. Was keiner Kunſt gelingt, das
Innerſte des Menſchen bis in den geheimſten Gedan¬
ken und Empfindungen zu ſpiegeln, vermag allein die
Poeſie, und dies gibt ihr die Macht uͤber die menſch¬
liche Seele, der alle Voͤlker gehuldigt haben. Durch
dieſe Offenbarung des Menſchlichen iſt die Poeſie das
wirkſamſte Mittel und zugleich die hoͤchſte Bluͤthe der
Humanitaͤt. Poetiſche Voͤlker ſind die edelſten und
die edelſten werden poetiſch. Die Offenbarung ſchoͤ¬
ner Menſchlichkeit in den poetiſchen Idealen iſt die
Krone des Lebens. Die Poeſie iſt aber auch die
dauerhafteſte unter den Kuͤnſten, die unvergaͤnglichſte,
weil ihre Denkmale auf die leichteſte Weiſe verviel¬
faͤltigt und immer wieder erneuert werden koͤnnen.
Voͤlker wechſeln, Staaten werden zertruͤmmert, ein
Glaube verdraͤngt den andern, Irrthum wird, was
einſt als Wahrheit gegolten, die Werke der bilden¬
den Kunſt zerfallen in Staub, nur die Dichtungen
uͤberdauern die Stuͤrme der Zeit und glaͤnzen noch
nach Jahrtauſenden im erſten Jugendſchimmer. Um
alle Zeiten ſchlingt die Poeſie den Kranz, vereinigt
und verſoͤhnt alle. Mitten im ewigen Wechſel erhaͤlt
ſich die ſtille Blumeninſel der Dichtung, der irdiſche
Himmel, wo die matten Seelen Erquickung finden,
wo die Urvaͤter und Urenkel die gleichen Entzuͤckun¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/64>, abgerufen am 05.12.2024.
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