Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

interessiren müssen, theils in rein philosophischer Hin¬
sicht, theils um bei den widersprechenden Ansichten
und Manieren in der Kunst aufs Reine zu kommen.
Der Philosoph, der Alles wissen wollte, mußte die
Bedeutung des Schönen zu erkennen streben, und die
Künstler und Dichter hatten alle Ursach, nach einer
ästhetischen Gesetzgebung zu verlangen, nachdem sie
über das Schöne in die mannigfachsten Widersprüche
gerathen waren. Je mehr das Schöne aus dem Le¬
ben an die Bildung des todten Stoffes, oder an die
Kunst, und die Kunst wieder aus der Natur an die
Sprache überging, verlor sich immer mehr der ein¬
fache Naturtrieb und eine vielseitige, alles berücksich¬
tigende und doch nie fertig werdende, hier festgehal¬
tene, dort ins Ungewisse hinausgetriebene, immer
mit sich selbst streitende Reflexion nahm überhand.
Die irrenden Begriffe suchten wieder, was das sichre
Naturgefühl gewährt hatte. In der Kunst so wenig
als in der Wissenschaft, konnten die Geister einig
bleiben und die ästhetischen Ansichten widersprachen
sich nicht weniger, als die religiösen, philosophischen
und politischen, und dem zufolge herrschten auch man¬
nigfache Maximen in Betreff der Kunstpraxis. Jeder
Widerspruch sucht aber die Auflösung, jede Mannig¬
faltigkeit die ihr insgeheim zu Grunde liegende Ein¬
heit und so hat man auch die Ästhetik in theoretischer
und praktischer, oder philosophischer und technischer
Hinsicht in ein evidentes System zu bringen gesucht.

intereſſiren muͤſſen, theils in rein philoſophiſcher Hin¬
ſicht, theils um bei den widerſprechenden Anſichten
und Manieren in der Kunſt aufs Reine zu kommen.
Der Philoſoph, der Alles wiſſen wollte, mußte die
Bedeutung des Schoͤnen zu erkennen ſtreben, und die
Kuͤnſtler und Dichter hatten alle Urſach, nach einer
aͤſthetiſchen Geſetzgebung zu verlangen, nachdem ſie
uͤber das Schoͤne in die mannigfachſten Widerſpruͤche
gerathen waren. Je mehr das Schoͤne aus dem Le¬
ben an die Bildung des todten Stoffes, oder an die
Kunſt, und die Kunſt wieder aus der Natur an die
Sprache uͤberging, verlor ſich immer mehr der ein¬
fache Naturtrieb und eine vielſeitige, alles beruͤckſich¬
tigende und doch nie fertig werdende, hier feſtgehal¬
tene, dort ins Ungewiſſe hinausgetriebene, immer
mit ſich ſelbſt ſtreitende Reflexion nahm uͤberhand.
Die irrenden Begriffe ſuchten wieder, was das ſichre
Naturgefuͤhl gewaͤhrt hatte. In der Kunſt ſo wenig
als in der Wiſſenſchaft, konnten die Geiſter einig
bleiben und die aͤſthetiſchen Anſichten widerſprachen
ſich nicht weniger, als die religioͤſen, philoſophiſchen
und politiſchen, und dem zufolge herrſchten auch man¬
nigfache Maximen in Betreff der Kunſtpraxis. Jeder
Widerſpruch ſucht aber die Aufloͤſung, jede Mannig¬
faltigkeit die ihr insgeheim zu Grunde liegende Ein¬
heit und ſo hat man auch die Äſthetik in theoretiſcher
und praktiſcher, oder philoſophiſcher und techniſcher
Hinſicht in ein evidentes Syſtem zu bringen geſucht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0057" n="47"/>
intere&#x017F;&#x017F;iren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, theils in rein philo&#x017F;ophi&#x017F;cher Hin¬<lb/>
&#x017F;icht, theils um bei den wider&#x017F;prechenden An&#x017F;ichten<lb/>
und Manieren in der Kun&#x017F;t aufs Reine zu kommen.<lb/>
Der Philo&#x017F;oph, der Alles wi&#x017F;&#x017F;en wollte, mußte die<lb/>
Bedeutung des Scho&#x0364;nen zu erkennen &#x017F;treben, und die<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;tler und Dichter hatten alle Ur&#x017F;ach, nach einer<lb/>
a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Ge&#x017F;etzgebung zu verlangen, nachdem &#x017F;ie<lb/>
u&#x0364;ber das Scho&#x0364;ne in die mannigfach&#x017F;ten Wider&#x017F;pru&#x0364;che<lb/>
gerathen waren. Je mehr das Scho&#x0364;ne aus dem Le¬<lb/>
ben an die Bildung des todten Stoffes, oder an die<lb/>
Kun&#x017F;t, und die Kun&#x017F;t wieder aus der Natur an die<lb/>
Sprache u&#x0364;berging, verlor &#x017F;ich immer mehr der ein¬<lb/>
fache Naturtrieb und eine viel&#x017F;eitige, alles beru&#x0364;ck&#x017F;ich¬<lb/>
tigende und doch nie fertig werdende, hier fe&#x017F;tgehal¬<lb/>
tene, dort ins Ungewi&#x017F;&#x017F;e hinausgetriebene, immer<lb/>
mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;treitende Reflexion nahm u&#x0364;berhand.<lb/>
Die irrenden Begriffe &#x017F;uchten wieder, was das &#x017F;ichre<lb/>
Naturgefu&#x0364;hl gewa&#x0364;hrt hatte. In der Kun&#x017F;t &#x017F;o wenig<lb/>
als in der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, konnten die Gei&#x017F;ter einig<lb/>
bleiben und die a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen An&#x017F;ichten wider&#x017F;prachen<lb/>
&#x017F;ich nicht weniger, als die religio&#x0364;&#x017F;en, philo&#x017F;ophi&#x017F;chen<lb/>
und politi&#x017F;chen, und dem zufolge herr&#x017F;chten auch man¬<lb/>
nigfache Maximen in Betreff der Kun&#x017F;tpraxis. Jeder<lb/>
Wider&#x017F;pruch &#x017F;ucht aber die Auflo&#x0364;&#x017F;ung, jede Mannig¬<lb/>
faltigkeit die ihr insgeheim zu Grunde liegende Ein¬<lb/>
heit und &#x017F;o hat man auch die Ä&#x017F;thetik in theoreti&#x017F;cher<lb/>
und prakti&#x017F;cher, oder philo&#x017F;ophi&#x017F;cher und techni&#x017F;cher<lb/>
Hin&#x017F;icht in ein evidentes Sy&#x017F;tem zu bringen ge&#x017F;ucht.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0057] intereſſiren muͤſſen, theils in rein philoſophiſcher Hin¬ ſicht, theils um bei den widerſprechenden Anſichten und Manieren in der Kunſt aufs Reine zu kommen. Der Philoſoph, der Alles wiſſen wollte, mußte die Bedeutung des Schoͤnen zu erkennen ſtreben, und die Kuͤnſtler und Dichter hatten alle Urſach, nach einer aͤſthetiſchen Geſetzgebung zu verlangen, nachdem ſie uͤber das Schoͤne in die mannigfachſten Widerſpruͤche gerathen waren. Je mehr das Schoͤne aus dem Le¬ ben an die Bildung des todten Stoffes, oder an die Kunſt, und die Kunſt wieder aus der Natur an die Sprache uͤberging, verlor ſich immer mehr der ein¬ fache Naturtrieb und eine vielſeitige, alles beruͤckſich¬ tigende und doch nie fertig werdende, hier feſtgehal¬ tene, dort ins Ungewiſſe hinausgetriebene, immer mit ſich ſelbſt ſtreitende Reflexion nahm uͤberhand. Die irrenden Begriffe ſuchten wieder, was das ſichre Naturgefuͤhl gewaͤhrt hatte. In der Kunſt ſo wenig als in der Wiſſenſchaft, konnten die Geiſter einig bleiben und die aͤſthetiſchen Anſichten widerſprachen ſich nicht weniger, als die religioͤſen, philoſophiſchen und politiſchen, und dem zufolge herrſchten auch man¬ nigfache Maximen in Betreff der Kunſtpraxis. Jeder Widerſpruch ſucht aber die Aufloͤſung, jede Mannig¬ faltigkeit die ihr insgeheim zu Grunde liegende Ein¬ heit und ſo hat man auch die Äſthetik in theoretiſcher und praktiſcher, oder philoſophiſcher und techniſcher Hinſicht in ein evidentes Syſtem zu bringen geſucht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/57
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/57>, abgerufen am 04.12.2024.