Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.unterging. Was wir Herrliches von dem reinen sin¬ Darum herrscht die Dichtkunst jetzt vor allen an¬ Die Ästhetik oder Wissenschaft vom Schönen unterging. Was wir Herrliches von dem reinen ſin¬ Darum herrſcht die Dichtkunſt jetzt vor allen an¬ Die Äſthetik oder Wiſſenſchaft vom Schoͤnen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0056" n="46"/> unterging. Was wir Herrliches von dem reinen ſin¬<lb/> nigen Familienleben, von der Heldenkunſt und Hel¬<lb/> denpoeſie der Germanen vernehmen, iſt mit ihnen<lb/> ſelbſt von der Zeit verſchlungen worden. Erſt das<lb/> Mittelalter hinterließ uns unſterbliche Denkmaͤler der<lb/> Kunſt, weil in ihm die Poeſie aus dem Leben ſchon<lb/> in die Beſchaulichkeit uͤberging, doch war es vorzuͤg¬<lb/> lich die bildende Kunſt, der die Deutſchen damals<lb/> ſich ergaben, weil ſie die erſten gewaltigen Zuͤge der<lb/> innern poetiſchen Welt in der rieſenhaften und ewi¬<lb/> gen Steinſchrift der Natur entwerfen mußten. Die<lb/> neueſte Zeit iſt von dieſen einfachen Zuͤgen abgewi¬<lb/> chen, wie immer mehr die Betrachtung zu dem Man¬<lb/> nigfaltigen und Widerſprechenden ſich fortgeriſſen ſah<lb/> und der unermeßlichen gaͤhrenden Geiſterwelt konnten<lb/> nur noch die redenden Kuͤnſte dienen, die den kuͤhn¬<lb/> ſten und verwickelſten Labyrinthen des Gedankens und<lb/> der Phantaſie zu folgen im Stande ſind.</p><lb/> <p>Darum herrſcht die Dichtkunſt jetzt vor allen an¬<lb/> dern Kuͤnſten, und ihre Traͤgerin wird mit der Spra¬<lb/> che die Literatur. Schoͤne Kunſt und ſchoͤne Literatur<lb/> oder Belletriſtik iſt daher beinahe gleichbedeutend ge¬<lb/> worden. Ehe wir aber die Dichtkunſt betrachten, wol¬<lb/> len wir einen Augenblick bei der ziemlich duͤrftigen<lb/> Literatur verweilen, welche das Schoͤne und die Kunſt<lb/> im Allgemeinen und die uͤbrigen Kuͤnſte, außer der<lb/> Dichtkunſt, behandelt.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">Äſthetik</hi> oder Wiſſenſchaft vom Schoͤnen<lb/> hat die Deutſchen auf doppelte Weiſe immer mehr<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [46/0056]
unterging. Was wir Herrliches von dem reinen ſin¬
nigen Familienleben, von der Heldenkunſt und Hel¬
denpoeſie der Germanen vernehmen, iſt mit ihnen
ſelbſt von der Zeit verſchlungen worden. Erſt das
Mittelalter hinterließ uns unſterbliche Denkmaͤler der
Kunſt, weil in ihm die Poeſie aus dem Leben ſchon
in die Beſchaulichkeit uͤberging, doch war es vorzuͤg¬
lich die bildende Kunſt, der die Deutſchen damals
ſich ergaben, weil ſie die erſten gewaltigen Zuͤge der
innern poetiſchen Welt in der rieſenhaften und ewi¬
gen Steinſchrift der Natur entwerfen mußten. Die
neueſte Zeit iſt von dieſen einfachen Zuͤgen abgewi¬
chen, wie immer mehr die Betrachtung zu dem Man¬
nigfaltigen und Widerſprechenden ſich fortgeriſſen ſah
und der unermeßlichen gaͤhrenden Geiſterwelt konnten
nur noch die redenden Kuͤnſte dienen, die den kuͤhn¬
ſten und verwickelſten Labyrinthen des Gedankens und
der Phantaſie zu folgen im Stande ſind.
Darum herrſcht die Dichtkunſt jetzt vor allen an¬
dern Kuͤnſten, und ihre Traͤgerin wird mit der Spra¬
che die Literatur. Schoͤne Kunſt und ſchoͤne Literatur
oder Belletriſtik iſt daher beinahe gleichbedeutend ge¬
worden. Ehe wir aber die Dichtkunſt betrachten, wol¬
len wir einen Augenblick bei der ziemlich duͤrftigen
Literatur verweilen, welche das Schoͤne und die Kunſt
im Allgemeinen und die uͤbrigen Kuͤnſte, außer der
Dichtkunſt, behandelt.
Die Äſthetik oder Wiſſenſchaft vom Schoͤnen
hat die Deutſchen auf doppelte Weiſe immer mehr
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