versteckt desto grausamer peinigende Nymphomanie gereizt wurde. Nach überstandnem Paroxismus und erfolgter gänzlicher Ohnmacht und Lähmung griff die böse Krankheit das ganze Nervensystem an, und siehe, ein neues Wunder erschien, der Somnambulismus. So folgten auf die kitzlichen Romane voll Wahlver¬ wandtschaften, Ehebruch die magnetischen nnd sym¬ pathetischen, worin vorzüglich Hoffmann sich einen Namen gemacht.
Auf den psychologischen Roman folgte der phi¬ losophische, wie auf die anthropologischen Unter¬ suchungen Platner's, Menoelsohn's, Garve's, Rei¬ marus, Abt's und andrer bis auf Kant die geschlo߬ nen Systeme Fichte's und Schelling's und alle spä¬ tern folgten. Früher suchte man die Natur in ihren geheimsten Falten zu copiren, nachher stellte man apo¬ diktisch irgend ein Ideal auf. Der philosophische Roman sollte dazu dienen, irgend ein System, einen Satz anschaulich und anmuthig vorzutragen. Da ent¬ standen religiöse Romane, katholische, protestantische und pietistische, ferner moralische, politische, pädago¬ gische, zuletzt Kunst- und Künstlerromane. Der Haupt¬ zweck war der Vortrag eines Systems, einer bestimm¬ ten Meinung und Lehre oder rhapsodischer Phanta¬ sien über einen philosophischen Gegenstand. Dieser Zweck ward aber versteckt. Die Philosophie erschien nur sub rosa. Man legte die Gedanken, die man vortragen wollte, einer idealisirten Person in den Mund, und widerlegte die entgegengesetzten Meinun¬
verſteckt deſto grauſamer peinigende Nymphomanie gereizt wurde. Nach uͤberſtandnem Paroxismus und erfolgter gaͤnzlicher Ohnmacht und Laͤhmung griff die boͤſe Krankheit das ganze Nervenſyſtem an, und ſiehe, ein neues Wunder erſchien, der Somnambulismus. So folgten auf die kitzlichen Romane voll Wahlver¬ wandtſchaften, Ehebruch die magnetiſchen nnd ſym¬ pathetiſchen, worin vorzuͤglich Hoffmann ſich einen Namen gemacht.
Auf den pſychologiſchen Roman folgte der phi¬ loſophiſche, wie auf die anthropologiſchen Unter¬ ſuchungen Platner's, Menoelſohn's, Garve's, Rei¬ marus, Abt's und andrer bis auf Kant die geſchlo߬ nen Syſteme Fichte's und Schelling's und alle ſpaͤ¬ tern folgten. Fruͤher ſuchte man die Natur in ihren geheimſten Falten zu copiren, nachher ſtellte man apo¬ diktiſch irgend ein Ideal auf. Der philoſophiſche Roman ſollte dazu dienen, irgend ein Syſtem, einen Satz anſchaulich und anmuthig vorzutragen. Da ent¬ ſtanden religioͤſe Romane, katholiſche, proteſtantiſche und pietiſtiſche, ferner moraliſche, politiſche, paͤdago¬ giſche, zuletzt Kunſt- und Kuͤnſtlerromane. Der Haupt¬ zweck war der Vortrag eines Syſtems, einer beſtimm¬ ten Meinung und Lehre oder rhapſodiſcher Phanta¬ ſien uͤber einen philoſophiſchen Gegenſtand. Dieſer Zweck ward aber verſteckt. Die Philoſophie erſchien nur sub rosa. Man legte die Gedanken, die man vortragen wollte, einer idealiſirten Perſon in den Mund, und widerlegte die entgegengeſetzten Meinun¬
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verſteckt deſto grauſamer peinigende Nymphomanie
gereizt wurde. Nach uͤberſtandnem Paroxismus und
erfolgter gaͤnzlicher Ohnmacht und Laͤhmung griff die
boͤſe Krankheit das ganze Nervenſyſtem an, und ſiehe,
ein neues Wunder erſchien, der Somnambulismus.
So folgten auf die kitzlichen Romane voll Wahlver¬
wandtſchaften, Ehebruch die magnetiſchen nnd ſym¬
pathetiſchen, worin vorzuͤglich Hoffmann ſich einen
Namen gemacht.
Auf den pſychologiſchen Roman folgte der phi¬
loſophiſche, wie auf die anthropologiſchen Unter¬
ſuchungen Platner's, Menoelſohn's, Garve's, Rei¬
marus, Abt's und andrer bis auf Kant die geſchlo߬
nen Syſteme Fichte's und Schelling's und alle ſpaͤ¬
tern folgten. Fruͤher ſuchte man die Natur in ihren
geheimſten Falten zu copiren, nachher ſtellte man apo¬
diktiſch irgend ein Ideal auf. Der philoſophiſche
Roman ſollte dazu dienen, irgend ein Syſtem, einen
Satz anſchaulich und anmuthig vorzutragen. Da ent¬
ſtanden religioͤſe Romane, katholiſche, proteſtantiſche
und pietiſtiſche, ferner moraliſche, politiſche, paͤdago¬
giſche, zuletzt Kunſt- und Kuͤnſtlerromane. Der Haupt¬
zweck war der Vortrag eines Syſtems, einer beſtimm¬
ten Meinung und Lehre oder rhapſodiſcher Phanta¬
ſien uͤber einen philoſophiſchen Gegenſtand. Dieſer
Zweck ward aber verſteckt. Die Philoſophie erſchien
nur sub rosa. Man legte die Gedanken, die man
vortragen wollte, einer idealiſirten Perſon in den
Mund, und widerlegte die entgegengeſetzten Meinun¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/294>, abgerufen am 26.11.2024.
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