Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.werth. Göthe schildert den Menschen, es ist wahr, Noch bestimmter gaben Göthe's Wahlverwandt¬ Die Romane folgten dem Gange der Krankheit. werth. Goͤthe ſchildert den Menſchen, es iſt wahr, Noch beſtimmter gaben Goͤthe's Wahlverwandt¬ Die Romane folgten dem Gange der Krankheit. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0293" n="283"/> werth. Goͤthe ſchildert den Menſchen, es iſt wahr,<lb/> aber welchen Menſchen? den Sohn einer ſchwaͤchli¬<lb/> chen und mit dieſer Schwaͤche kokettirenden Zeit. Nie<lb/> iſt der Gegenſtand eines Gedichts ſo ſehr mit der<lb/> poetiſchen Auffaſſung und Form in Widerſpruch ge¬<lb/> weſen.</p><lb/> <p>Noch beſtimmter gaben Goͤthe's Wahlverwandt¬<lb/> ſchaften dem pſychologiſchen Roman die Richtung,<lb/> die er noch jetzt verfolgt, und in welcher beſonders<lb/> einige dichtende Weiber ſich ausgezeichnet haben. Man<lb/> verweilte mit Vorliebe nur bei der Betrachtung der<lb/> menſchlichen Schwaͤchen, Unarten, unnatuͤrlichen Appe¬<lb/> tite. Fruͤher hatte man den geſunden Zuſtand der<lb/> Liebe geſchildert, jetzt kam die Reihe an den krank¬<lb/> haften Zuſtand. An die Stelle der ehemaligen Ro¬<lb/> manheldinnen traten jene unnatuͤrlichen Weiber, die<lb/> ſchon durch die Romanheldinnen verdorben waren,<lb/> nervenſchwache, bleichſuͤchtige, uͤberbildete Maͤdchen<lb/> und kokette, uͤber die geliebte Suͤnde philoſophirende,<lb/> wohl gar froͤmmelnde Weiber, in denen kein Tropfen<lb/> geſundes, friſches Blut mehr uͤbrig war. Jener le¬<lb/> bendige ſilberhelle Strom, der von Triſtan ausge¬<lb/> gangen, verlief ſich hier abſeits in einen abgeſtand¬<lb/> nen Sumpf, worin alle Jauche des großen Seelen¬<lb/> klynikums zuſammenfloß.</p><lb/> <p>Die Romane folgten dem Gange der Krankheit.<lb/> Dieſe zeigte ſich zunaͤchſt in monſtroͤſer Druͤſenthaͤtig¬<lb/> keit, wodurch Bruſt und Herz beengt, ein andres<lb/> Organ aber uͤbermaͤßig, ja bis zur wahnſinnigen und<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [283/0293]
werth. Goͤthe ſchildert den Menſchen, es iſt wahr,
aber welchen Menſchen? den Sohn einer ſchwaͤchli¬
chen und mit dieſer Schwaͤche kokettirenden Zeit. Nie
iſt der Gegenſtand eines Gedichts ſo ſehr mit der
poetiſchen Auffaſſung und Form in Widerſpruch ge¬
weſen.
Noch beſtimmter gaben Goͤthe's Wahlverwandt¬
ſchaften dem pſychologiſchen Roman die Richtung,
die er noch jetzt verfolgt, und in welcher beſonders
einige dichtende Weiber ſich ausgezeichnet haben. Man
verweilte mit Vorliebe nur bei der Betrachtung der
menſchlichen Schwaͤchen, Unarten, unnatuͤrlichen Appe¬
tite. Fruͤher hatte man den geſunden Zuſtand der
Liebe geſchildert, jetzt kam die Reihe an den krank¬
haften Zuſtand. An die Stelle der ehemaligen Ro¬
manheldinnen traten jene unnatuͤrlichen Weiber, die
ſchon durch die Romanheldinnen verdorben waren,
nervenſchwache, bleichſuͤchtige, uͤberbildete Maͤdchen
und kokette, uͤber die geliebte Suͤnde philoſophirende,
wohl gar froͤmmelnde Weiber, in denen kein Tropfen
geſundes, friſches Blut mehr uͤbrig war. Jener le¬
bendige ſilberhelle Strom, der von Triſtan ausge¬
gangen, verlief ſich hier abſeits in einen abgeſtand¬
nen Sumpf, worin alle Jauche des großen Seelen¬
klynikums zuſammenfloß.
Die Romane folgten dem Gange der Krankheit.
Dieſe zeigte ſich zunaͤchſt in monſtroͤſer Druͤſenthaͤtig¬
keit, wodurch Bruſt und Herz beengt, ein andres
Organ aber uͤbermaͤßig, ja bis zur wahnſinnigen und
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