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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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wundern, diese Hektor's und Achille, diese Roland's
und Tancred's wenn sie sähen, wie in dem "tinten¬
klexenden Seculum" die Mäuse in ihren Helmen ni¬
sten. Und die alten Dichter selbst, was würden sie
zu ihren modernen Nebenbuhlern sagen? Sie würden
glauben müssen, mit ihnen sey alle Poesie von der
Erde verschwunden, wenn ihnen diese gute Erde nicht
noch immer von Zeit zu Zeit einen Shakespeare oder
Schiller nach Elysium nachschickte. Wenn es viel¬
leicht nur lächerlich ist, nach einer Ilias, nach einem
Orlando Furioso noch hundert und aber hundert Co¬
pien zuzuschneiden, so ist es dagegen völlig abge¬
schmackt, ja verderblich, willkürlich die Formen der
Alteu auf moderne, unpassende Gegenstände anzuwen¬
den, oder gar die verschiedensten Formen in einen
bunten Schleim durcheinander zu kneten, wie Ernst
Schulze in seiner Cecilie.

Suchen wir ein echtes, vollkommenes, unsrer
Zeit ganz eigenthümliches Epos, so werden wir es
wohl nur im Romane finden. In frühern Zeiten
erschien der Roman so zurückgedrängt und krüppel¬
haft, als es in der unsern das Heldengedicht ist. Der
ganze Unterschied zwischen Roman und Heldengedicht
ist derjenige der Zeiten und ihres Charakters. Die
Helden und Schicksale der Alten ließen sich besingen,
die unsrigen lassen sich nur noch beschreiben. Unstrei¬
tig übt unser alles umfassender, alles durchdringen¬
der Weltverstand den größten Einfluß, wie auf alle
Erscheinungen des neuern Culturzustandes, so auch

wundern, dieſe Hektor's und Achille, dieſe Roland's
und Tancred's wenn ſie ſaͤhen, wie in dem »tinten¬
klexenden Seculum« die Maͤuſe in ihren Helmen ni¬
ſten. Und die alten Dichter ſelbſt, was wuͤrden ſie
zu ihren modernen Nebenbuhlern ſagen? Sie wuͤrden
glauben muͤſſen, mit ihnen ſey alle Poeſie von der
Erde verſchwunden, wenn ihnen dieſe gute Erde nicht
noch immer von Zeit zu Zeit einen Shakeſpeare oder
Schiller nach Elyſium nachſchickte. Wenn es viel¬
leicht nur laͤcherlich iſt, nach einer Ilias, nach einem
Orlando Furioſo noch hundert und aber hundert Co¬
pien zuzuſchneiden, ſo iſt es dagegen voͤllig abge¬
ſchmackt, ja verderblich, willkuͤrlich die Formen der
Alteu auf moderne, unpaſſende Gegenſtaͤnde anzuwen¬
den, oder gar die verſchiedenſten Formen in einen
bunten Schleim durcheinander zu kneten, wie Ernſt
Schulze in ſeiner Cecilie.

Suchen wir ein echtes, vollkommenes, unſrer
Zeit ganz eigenthuͤmliches Epos, ſo werden wir es
wohl nur im Romane finden. In fruͤhern Zeiten
erſchien der Roman ſo zuruͤckgedraͤngt und kruͤppel¬
haft, als es in der unſern das Heldengedicht iſt. Der
ganze Unterſchied zwiſchen Roman und Heldengedicht
iſt derjenige der Zeiten und ihres Charakters. Die
Helden und Schickſale der Alten ließen ſich beſingen,
die unſrigen laſſen ſich nur noch beſchreiben. Unſtrei¬
tig uͤbt unſer alles umfaſſender, alles durchdringen¬
der Weltverſtand den groͤßten Einfluß, wie auf alle
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[270/0280] wundern, dieſe Hektor's und Achille, dieſe Roland's und Tancred's wenn ſie ſaͤhen, wie in dem »tinten¬ klexenden Seculum« die Maͤuſe in ihren Helmen ni¬ ſten. Und die alten Dichter ſelbſt, was wuͤrden ſie zu ihren modernen Nebenbuhlern ſagen? Sie wuͤrden glauben muͤſſen, mit ihnen ſey alle Poeſie von der Erde verſchwunden, wenn ihnen dieſe gute Erde nicht noch immer von Zeit zu Zeit einen Shakeſpeare oder Schiller nach Elyſium nachſchickte. Wenn es viel¬ leicht nur laͤcherlich iſt, nach einer Ilias, nach einem Orlando Furioſo noch hundert und aber hundert Co¬ pien zuzuſchneiden, ſo iſt es dagegen voͤllig abge¬ ſchmackt, ja verderblich, willkuͤrlich die Formen der Alteu auf moderne, unpaſſende Gegenſtaͤnde anzuwen¬ den, oder gar die verſchiedenſten Formen in einen bunten Schleim durcheinander zu kneten, wie Ernſt Schulze in ſeiner Cecilie. Suchen wir ein echtes, vollkommenes, unſrer Zeit ganz eigenthuͤmliches Epos, ſo werden wir es wohl nur im Romane finden. In fruͤhern Zeiten erſchien der Roman ſo zuruͤckgedraͤngt und kruͤppel¬ haft, als es in der unſern das Heldengedicht iſt. Der ganze Unterſchied zwiſchen Roman und Heldengedicht iſt derjenige der Zeiten und ihres Charakters. Die Helden und Schickſale der Alten ließen ſich beſingen, die unſrigen laſſen ſich nur noch beſchreiben. Unſtrei¬ tig uͤbt unſer alles umfaſſender, alles durchdringen¬ der Weltverſtand den groͤßten Einfluß, wie auf alle Erſcheinungen des neuern Culturzuſtandes, ſo auch

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/280>, abgerufen am 25.11.2024.