Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

züglich in der Oper eine neue Bahn brach, und das
französische Lustspiel begann allmählig, lustig genug
zur Natur zurückzukehren. Endlich drang die Thea¬
terlust auch in die Städte, die noch einigen Wohl¬
stand aus dem Mittelalter sich gerettet, oder zu
neuer Blüthe sich emporgearbeitet und vorzüglich die
alten Hansestädte, vor allem Hamburg, öffnete der
Muse Shakespeare's den Zutritt und machte das
bisher nur höfische und ausländische Drama bürger¬
lich und volksthümlich. Was früher schon zum Theil
erstrebt worden, vollendete Lessing, den man als
den Begründer der neuen deutschen Dramaturgie be¬
trachten darf. Nicht nur, daß er als Kritiker den
Geschmack sichtete, der Nation die besten fremden
Muster vor Augen hielt und den Schauspieldirektio¬
nen und dem Publikum ein allmächtiges Orakel wurde,
auch als Dichter selbst gab er das erste Beispiel und
stimmte das deutsche Drama auf den Ton, den es
seitdem behalten hat. Emilia Galotti war das erste
deutsche Trauerspiel, Minna von Barnhelm das erste
Lustspiel.

Seit Lessing ist durch Göthe, Schiller, Schrö¬
der, Jünger, Iffland, Kotzebue etc. das deutsche Thea¬
ter zum höchsten Flor gekommen, aber auch wieder
tief herabgesunken. Daher ist ein zweiter Lessing nö¬
thig geworden, und Ludwig Tieck kämpft eben so
ritterlich gegen die Entartung des Theaters, als Les¬
sing gegen die ursprüngliche Rohheit desselben kämpft.
Jede dramatische Gattung ist wieder ausgeartet, nach¬

zuͤglich in der Oper eine neue Bahn brach, und das
franzoͤſiſche Luſtſpiel begann allmaͤhlig, luſtig genug
zur Natur zuruͤckzukehren. Endlich drang die Thea¬
terluſt auch in die Staͤdte, die noch einigen Wohl¬
ſtand aus dem Mittelalter ſich gerettet, oder zu
neuer Bluͤthe ſich emporgearbeitet und vorzuͤglich die
alten Hanſeſtaͤdte, vor allem Hamburg, oͤffnete der
Muſe Shakespeare's den Zutritt und machte das
bisher nur hoͤfiſche und auslaͤndiſche Drama buͤrger¬
lich und volksthuͤmlich. Was fruͤher ſchon zum Theil
erſtrebt worden, vollendete Leſſing, den man als
den Begruͤnder der neuen deutſchen Dramaturgie be¬
trachten darf. Nicht nur, daß er als Kritiker den
Geſchmack ſichtete, der Nation die beſten fremden
Muſter vor Augen hielt und den Schauſpieldirektio¬
nen und dem Publikum ein allmaͤchtiges Orakel wurde,
auch als Dichter ſelbſt gab er das erſte Beiſpiel und
ſtimmte das deutſche Drama auf den Ton, den es
ſeitdem behalten hat. Emilia Galotti war das erſte
deutſche Trauerſpiel, Minna von Barnhelm das erſte
Luſtſpiel.

Seit Leſſing iſt durch Goͤthe, Schiller, Schroͤ¬
der, Juͤnger, Iffland, Kotzebue ꝛc. das deutſche Thea¬
ter zum hoͤchſten Flor gekommen, aber auch wieder
tief herabgeſunken. Daher iſt ein zweiter Leſſing noͤ¬
thig geworden, und Ludwig Tieck kaͤmpft eben ſo
ritterlich gegen die Entartung des Theaters, als Leſ¬
ſing gegen die urſpruͤngliche Rohheit deſſelben kaͤmpft.
Jede dramatiſche Gattung iſt wieder ausgeartet, nach¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0269" n="259"/>
zu&#x0364;glich in der Oper eine neue Bahn brach, und das<lb/>
franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Lu&#x017F;t&#x017F;piel begann allma&#x0364;hlig, lu&#x017F;tig genug<lb/>
zur Natur zuru&#x0364;ckzukehren. Endlich drang die Thea¬<lb/>
terlu&#x017F;t auch in die Sta&#x0364;dte, die noch einigen Wohl¬<lb/>
&#x017F;tand aus dem Mittelalter &#x017F;ich gerettet, oder zu<lb/>
neuer Blu&#x0364;the &#x017F;ich emporgearbeitet und vorzu&#x0364;glich die<lb/>
alten Han&#x017F;e&#x017F;ta&#x0364;dte, vor allem Hamburg, o&#x0364;ffnete der<lb/>
Mu&#x017F;e Shakespeare's den Zutritt und machte das<lb/>
bisher nur ho&#x0364;fi&#x017F;che und ausla&#x0364;ndi&#x017F;che Drama bu&#x0364;rger¬<lb/>
lich und volksthu&#x0364;mlich. Was fru&#x0364;her &#x017F;chon zum Theil<lb/>
er&#x017F;trebt worden, vollendete <hi rendition="#g">Le&#x017F;&#x017F;ing</hi>, den man als<lb/>
den Begru&#x0364;nder der neuen deut&#x017F;chen Dramaturgie be¬<lb/>
trachten darf. Nicht nur, daß er als Kritiker den<lb/>
Ge&#x017F;chmack &#x017F;ichtete, der Nation die be&#x017F;ten fremden<lb/>
Mu&#x017F;ter vor Augen hielt und den Schau&#x017F;pieldirektio¬<lb/>
nen und dem Publikum ein allma&#x0364;chtiges Orakel wurde,<lb/>
auch als Dichter &#x017F;elb&#x017F;t gab er das er&#x017F;te Bei&#x017F;piel und<lb/>
&#x017F;timmte das deut&#x017F;che Drama auf den Ton, den es<lb/>
&#x017F;eitdem behalten hat. Emilia Galotti war das er&#x017F;te<lb/>
deut&#x017F;che Trauer&#x017F;piel, Minna von Barnhelm das er&#x017F;te<lb/>
Lu&#x017F;t&#x017F;piel.</p><lb/>
        <p>Seit Le&#x017F;&#x017F;ing i&#x017F;t durch Go&#x0364;the, Schiller, Schro&#x0364;¬<lb/>
der, Ju&#x0364;nger, Iffland, Kotzebue &#xA75B;c. das deut&#x017F;che Thea¬<lb/>
ter zum ho&#x0364;ch&#x017F;ten Flor gekommen, aber auch wieder<lb/>
tief herabge&#x017F;unken. Daher i&#x017F;t ein zweiter Le&#x017F;&#x017F;ing no&#x0364;¬<lb/>
thig geworden, und Ludwig Tieck ka&#x0364;mpft eben &#x017F;o<lb/>
ritterlich gegen die Entartung des Theaters, als Le&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;ing gegen die ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche Rohheit de&#x017F;&#x017F;elben ka&#x0364;mpft.<lb/>
Jede dramati&#x017F;che Gattung i&#x017F;t wieder ausgeartet, nach¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[259/0269] zuͤglich in der Oper eine neue Bahn brach, und das franzoͤſiſche Luſtſpiel begann allmaͤhlig, luſtig genug zur Natur zuruͤckzukehren. Endlich drang die Thea¬ terluſt auch in die Staͤdte, die noch einigen Wohl¬ ſtand aus dem Mittelalter ſich gerettet, oder zu neuer Bluͤthe ſich emporgearbeitet und vorzuͤglich die alten Hanſeſtaͤdte, vor allem Hamburg, oͤffnete der Muſe Shakespeare's den Zutritt und machte das bisher nur hoͤfiſche und auslaͤndiſche Drama buͤrger¬ lich und volksthuͤmlich. Was fruͤher ſchon zum Theil erſtrebt worden, vollendete Leſſing, den man als den Begruͤnder der neuen deutſchen Dramaturgie be¬ trachten darf. Nicht nur, daß er als Kritiker den Geſchmack ſichtete, der Nation die beſten fremden Muſter vor Augen hielt und den Schauſpieldirektio¬ nen und dem Publikum ein allmaͤchtiges Orakel wurde, auch als Dichter ſelbſt gab er das erſte Beiſpiel und ſtimmte das deutſche Drama auf den Ton, den es ſeitdem behalten hat. Emilia Galotti war das erſte deutſche Trauerſpiel, Minna von Barnhelm das erſte Luſtſpiel. Seit Leſſing iſt durch Goͤthe, Schiller, Schroͤ¬ der, Juͤnger, Iffland, Kotzebue ꝛc. das deutſche Thea¬ ter zum hoͤchſten Flor gekommen, aber auch wieder tief herabgeſunken. Daher iſt ein zweiter Leſſing noͤ¬ thig geworden, und Ludwig Tieck kaͤmpft eben ſo ritterlich gegen die Entartung des Theaters, als Leſ¬ ſing gegen die urſpruͤngliche Rohheit deſſelben kaͤmpft. Jede dramatiſche Gattung iſt wieder ausgeartet, nach¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/269
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/269>, abgerufen am 28.11.2024.