unsrer neuern und neuesten Dichter waren zugleich Lyriker, vor allen Schiller und Göthe. Man darf behaupten, daß wir Deutsche mehr als irgend ein andres Volk von Natur schon lyrisch gestimmt sind. Man spricht immer vom deutschen Herzen. Unsre Lyrik bestätigt das Daseyn dieser überwiegenden Ge¬ müthskraft. Schon die ältesten Denkmale der ger¬ manischen Vorzeit erwähnen unsrer Bardengesänge, im Mittelalter blühte ganz Deutschland in einem ein¬ zigen großen lyrischen Frühling, und jetzt bringt wie¬ der jedes Jahr viele tausend Lieder. Eigentlich ist der Faden der lyrischen Poesie in Deutschland nie ganz abgerissen, wenn auch allerdings verdünnt wor¬ den. Wir waren immer Gefühlsmenschen, und Lyrik ist die erste und einfachste Sprache des Gefühls. Unsre lyrischen Gedichte sind gleichsam Zinsen eines unermeßlichen Capitals von Gutmüthigkeit und Herz¬ lichkeit, das uns unter allen Umständen treu geblie¬ ben ist.
Lyrik ist die Poesie der Jugend, und die deut¬ sche Jugend hat von jeher mehr als irgend eine andre geschwärmt. Das Gefühl fließt über, und es ist die¬ sen jungen Dichtern wahrscheinlich mehr darum zu thun, zu singen, als gehört zu werden. Wie die Vögel im Frühjahr, zwitschern sie auf allen Zweigen und scheinen gar nicht zu wissen, daß ihrer so viele tausende sind und daß sie doch immer nur das alte Lied singen. Es drängt sie einmal, ihre Stimme hö¬ ren zu lassen, und die meisten verstummen wieder,
unſrer neuern und neueſten Dichter waren zugleich Lyriker, vor allen Schiller und Goͤthe. Man darf behaupten, daß wir Deutſche mehr als irgend ein andres Volk von Natur ſchon lyriſch geſtimmt ſind. Man ſpricht immer vom deutſchen Herzen. Unſre Lyrik beſtaͤtigt das Daſeyn dieſer uͤberwiegenden Ge¬ muͤthskraft. Schon die aͤlteſten Denkmale der ger¬ maniſchen Vorzeit erwaͤhnen unſrer Bardengeſaͤnge, im Mittelalter bluͤhte ganz Deutſchland in einem ein¬ zigen großen lyriſchen Fruͤhling, und jetzt bringt wie¬ der jedes Jahr viele tauſend Lieder. Eigentlich iſt der Faden der lyriſchen Poeſie in Deutſchland nie ganz abgeriſſen, wenn auch allerdings verduͤnnt wor¬ den. Wir waren immer Gefuͤhlsmenſchen, und Lyrik iſt die erſte und einfachſte Sprache des Gefuͤhls. Unſre lyriſchen Gedichte ſind gleichſam Zinſen eines unermeßlichen Capitals von Gutmuͤthigkeit und Herz¬ lichkeit, das uns unter allen Umſtaͤnden treu geblie¬ ben iſt.
Lyrik iſt die Poeſie der Jugend, und die deut¬ ſche Jugend hat von jeher mehr als irgend eine andre geſchwaͤrmt. Das Gefuͤhl fließt uͤber, und es iſt die¬ ſen jungen Dichtern wahrſcheinlich mehr darum zu thun, zu ſingen, als gehoͤrt zu werden. Wie die Voͤgel im Fruͤhjahr, zwitſchern ſie auf allen Zweigen und ſcheinen gar nicht zu wiſſen, daß ihrer ſo viele tauſende ſind und daß ſie doch immer nur das alte Lied ſingen. Es draͤngt ſie einmal, ihre Stimme hoͤ¬ ren zu laſſen, und die meiſten verſtummen wieder,
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unſrer neuern und neueſten Dichter waren zugleich
Lyriker, vor allen Schiller und Goͤthe. Man darf
behaupten, daß wir Deutſche mehr als irgend ein
andres Volk von Natur ſchon lyriſch geſtimmt ſind.
Man ſpricht immer vom deutſchen Herzen. Unſre
Lyrik beſtaͤtigt das Daſeyn dieſer uͤberwiegenden Ge¬
muͤthskraft. Schon die aͤlteſten Denkmale der ger¬
maniſchen Vorzeit erwaͤhnen unſrer Bardengeſaͤnge,
im Mittelalter bluͤhte ganz Deutſchland in einem ein¬
zigen großen lyriſchen Fruͤhling, und jetzt bringt wie¬
der jedes Jahr viele tauſend Lieder. Eigentlich iſt
der Faden der lyriſchen Poeſie in Deutſchland nie
ganz abgeriſſen, wenn auch allerdings verduͤnnt wor¬
den. Wir waren immer Gefuͤhlsmenſchen, und Lyrik
iſt die erſte und einfachſte Sprache des Gefuͤhls.
Unſre lyriſchen Gedichte ſind gleichſam Zinſen eines
unermeßlichen Capitals von Gutmuͤthigkeit und Herz¬
lichkeit, das uns unter allen Umſtaͤnden treu geblie¬
ben iſt.
Lyrik iſt die Poeſie der Jugend, und die deut¬
ſche Jugend hat von jeher mehr als irgend eine andre
geſchwaͤrmt. Das Gefuͤhl fließt uͤber, und es iſt die¬
ſen jungen Dichtern wahrſcheinlich mehr darum zu
thun, zu ſingen, als gehoͤrt zu werden. Wie die
Voͤgel im Fruͤhjahr, zwitſchern ſie auf allen Zweigen
und ſcheinen gar nicht zu wiſſen, daß ihrer ſo viele
tauſende ſind und daß ſie doch immer nur das alte
Lied ſingen. Es draͤngt ſie einmal, ihre Stimme hoͤ¬
ren zu laſſen, und die meiſten verſtummen wieder,
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/258>, abgerufen am 23.11.2024.
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