in die Mitte der Schöpfung, aus deren Schooß er sich endlich losgerungen. Dies war der ursprüng¬ liche, natürliche Gang aller menschlichen, mithin auch der poetischen Entwicklung. Die neuere Poesie nimmt aber den umgekehrten Gang. Sie ist wesentlich eine Restauration und Reorganisation aus völlig aufge¬ gelösten anarchischen Elementen. Jene älteste Poesie, immer mehr sich zertheilend, zersetzend löste sich im römischen Zeitalter endlich völlig auf und gieng in fauligte Gährung über, bis nur dürre Knochen zu¬ rückblieben und auch diese zuletzt in Staub zerfielen. Da begann im christlichen Mittelalter der erste große Reorganisationsproceß, und eine neue Poesie schlug ihr großes Blüthenauge gegen den Himmel auf. Aber auch diese Blüthe welkte wieder, trug nur eine herbe Frucht in der didaktischen, spießbürgerlichen und sa¬ tyrischen Zeit kurz vor und nach der Reformation, schrumpfte vollends elend zusammen und fiel in den Koth jener großen Heerstraße, welche die Nachbarn im dreißigjährigen Kriege durch Deutschland zogen. Zum zweitenmal aber reorganisirte sich die Welt, und in dieser Periode leben wir jetzt. Bedenkt man nun, daß die neue Poesie aus einer allgemeinen Auflösung sich reorganisiren mußte, so versteht es sich von selbst, daß sie nicht wie die Urpoesie des Geschlechts von einem Ganzen ausgehend sich ins Einzelne verbrei¬ ten konnte, sondern umgekehrt vom Einzelnen in con¬ centrischer Richtung wieder ein Ganzes suchen mußte. In einzelnen Menschen mußte wieder ein poetisches
in die Mitte der Schoͤpfung, aus deren Schooß er ſich endlich losgerungen. Dies war der urſpruͤng¬ liche, natuͤrliche Gang aller menſchlichen, mithin auch der poetiſchen Entwicklung. Die neuere Poeſie nimmt aber den umgekehrten Gang. Sie iſt weſentlich eine Reſtauration und Reorganiſation aus voͤllig aufge¬ geloͤſten anarchiſchen Elementen. Jene aͤlteſte Poeſie, immer mehr ſich zertheilend, zerſetzend loͤſte ſich im roͤmiſchen Zeitalter endlich voͤllig auf und gieng in fauligte Gaͤhrung uͤber, bis nur duͤrre Knochen zu¬ ruͤckblieben und auch dieſe zuletzt in Staub zerfielen. Da begann im chriſtlichen Mittelalter der erſte große Reorganiſationsproceß, und eine neue Poeſie ſchlug ihr großes Bluͤthenauge gegen den Himmel auf. Aber auch dieſe Bluͤthe welkte wieder, trug nur eine herbe Frucht in der didaktiſchen, ſpießbuͤrgerlichen und ſa¬ tyriſchen Zeit kurz vor und nach der Reformation, ſchrumpfte vollends elend zuſammen und fiel in den Koth jener großen Heerſtraße, welche die Nachbarn im dreißigjaͤhrigen Kriege durch Deutſchland zogen. Zum zweitenmal aber reorganiſirte ſich die Welt, und in dieſer Periode leben wir jetzt. Bedenkt man nun, daß die neue Poeſie aus einer allgemeinen Aufloͤſung ſich reorganiſiren mußte, ſo verſteht es ſich von ſelbſt, daß ſie nicht wie die Urpoeſie des Geſchlechts von einem Ganzen ausgehend ſich ins Einzelne verbrei¬ ten konnte, ſondern umgekehrt vom Einzelnen in con¬ centriſcher Richtung wieder ein Ganzes ſuchen mußte. In einzelnen Menſchen mußte wieder ein poetiſches
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0255"n="245"/>
in die Mitte der Schoͤpfung, aus deren Schooß er<lb/>ſich endlich losgerungen. Dies war der urſpruͤng¬<lb/>
liche, natuͤrliche Gang aller menſchlichen, mithin auch<lb/>
der poetiſchen Entwicklung. Die neuere Poeſie nimmt<lb/>
aber den umgekehrten Gang. Sie iſt weſentlich eine<lb/>
Reſtauration und Reorganiſation aus voͤllig aufge¬<lb/>
geloͤſten anarchiſchen Elementen. Jene aͤlteſte Poeſie,<lb/>
immer mehr ſich zertheilend, zerſetzend loͤſte ſich im<lb/>
roͤmiſchen Zeitalter endlich voͤllig auf und gieng in<lb/>
fauligte Gaͤhrung uͤber, bis nur duͤrre Knochen zu¬<lb/>
ruͤckblieben und auch dieſe zuletzt in Staub zerfielen.<lb/>
Da begann im chriſtlichen Mittelalter der erſte große<lb/>
Reorganiſationsproceß, und eine neue Poeſie ſchlug<lb/>
ihr großes Bluͤthenauge gegen den Himmel auf. Aber<lb/>
auch dieſe Bluͤthe welkte wieder, trug nur eine herbe<lb/>
Frucht in der didaktiſchen, ſpießbuͤrgerlichen und ſa¬<lb/>
tyriſchen Zeit kurz vor und nach der Reformation,<lb/>ſchrumpfte vollends elend zuſammen und fiel in den<lb/>
Koth jener großen Heerſtraße, welche die Nachbarn<lb/>
im dreißigjaͤhrigen Kriege durch Deutſchland zogen.<lb/>
Zum zweitenmal aber reorganiſirte ſich die Welt, und<lb/>
in dieſer Periode leben wir jetzt. Bedenkt man nun,<lb/>
daß die neue Poeſie aus einer allgemeinen Aufloͤſung<lb/>ſich reorganiſiren mußte, ſo verſteht es ſich von ſelbſt,<lb/>
daß ſie nicht wie die Urpoeſie des Geſchlechts von<lb/>
einem Ganzen ausgehend ſich ins Einzelne verbrei¬<lb/>
ten konnte, ſondern umgekehrt vom Einzelnen in con¬<lb/>
centriſcher Richtung wieder ein Ganzes ſuchen mußte.<lb/>
In einzelnen Menſchen mußte wieder ein poetiſches<lb/></p></div></body></text></TEI>
[245/0255]
in die Mitte der Schoͤpfung, aus deren Schooß er
ſich endlich losgerungen. Dies war der urſpruͤng¬
liche, natuͤrliche Gang aller menſchlichen, mithin auch
der poetiſchen Entwicklung. Die neuere Poeſie nimmt
aber den umgekehrten Gang. Sie iſt weſentlich eine
Reſtauration und Reorganiſation aus voͤllig aufge¬
geloͤſten anarchiſchen Elementen. Jene aͤlteſte Poeſie,
immer mehr ſich zertheilend, zerſetzend loͤſte ſich im
roͤmiſchen Zeitalter endlich voͤllig auf und gieng in
fauligte Gaͤhrung uͤber, bis nur duͤrre Knochen zu¬
ruͤckblieben und auch dieſe zuletzt in Staub zerfielen.
Da begann im chriſtlichen Mittelalter der erſte große
Reorganiſationsproceß, und eine neue Poeſie ſchlug
ihr großes Bluͤthenauge gegen den Himmel auf. Aber
auch dieſe Bluͤthe welkte wieder, trug nur eine herbe
Frucht in der didaktiſchen, ſpießbuͤrgerlichen und ſa¬
tyriſchen Zeit kurz vor und nach der Reformation,
ſchrumpfte vollends elend zuſammen und fiel in den
Koth jener großen Heerſtraße, welche die Nachbarn
im dreißigjaͤhrigen Kriege durch Deutſchland zogen.
Zum zweitenmal aber reorganiſirte ſich die Welt, und
in dieſer Periode leben wir jetzt. Bedenkt man nun,
daß die neue Poeſie aus einer allgemeinen Aufloͤſung
ſich reorganiſiren mußte, ſo verſteht es ſich von ſelbſt,
daß ſie nicht wie die Urpoeſie des Geſchlechts von
einem Ganzen ausgehend ſich ins Einzelne verbrei¬
ten konnte, ſondern umgekehrt vom Einzelnen in con¬
centriſcher Richtung wieder ein Ganzes ſuchen mußte.
In einzelnen Menſchen mußte wieder ein poetiſches
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/255>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.