die schöne Literatur gänzlich unter Wasser zu setzen droht.
Dieser Übergang ist sehr natürlich. Wenn man auch nicht behaupten darf, daß er der ursprünglich nothwendige Gang sey, den die Poesie jedes Volks, oder überhaupt des menschlichen Geschlechts nehmen müsse, so ist er doch für unser Volk und unsre Zeit nothwendig geworden. Die Poesie des Menschenge¬ schlechts hat mit einer rein epischen Symbolik begon¬ nen, und aus dieser objectiven Weltpoesie hat sich allmählig erst die subjective Lyrik entwickelt, so wie der Mensch selbst immer freier und selbständiger ge¬ worden ist. Jene älteste Poesie gieng aus einer harmo¬ nischen, gläubigen Weltansicht hervor, die neue Poesie der Deutschen dagegen aus einer zerrißnen, völlig disharmonischen und ungläubigen Ansicht der Dinge. Dort gieng man vom Ganzen zum Einzelnen über, und von dem Äußern zum Innern, vom objectiven All zur subjectiven Persönlichkeit. Das alte mythi¬ sche Epos zerfiel in Dramen, und diese wieder in ly¬ rische Charaktere, wie aus der Theokratie die Hel¬ denkämpfe, und aus diesen die bürgerliche Freiheit hervorgieng. Äschylos begann den Homer ins Drama zu übersetzen, und Anakreon löste wieder die lyrischen Tiraden aus den Stücken des Euripides, wie Blü¬ then vom Baume los, und ließ sie als lyrische Blät¬ ter frei herumfliegen. Eben so löste sich aus dem alten Tempelbau die Statue los und trat frei und stolz in die Mitte der heiligen Hallen, wie der Mensch
die ſchoͤne Literatur gaͤnzlich unter Waſſer zu ſetzen droht.
Dieſer Übergang iſt ſehr natuͤrlich. Wenn man auch nicht behaupten darf, daß er der urſpruͤnglich nothwendige Gang ſey, den die Poeſie jedes Volks, oder uͤberhaupt des menſchlichen Geſchlechts nehmen muͤſſe, ſo iſt er doch fuͤr unſer Volk und unſre Zeit nothwendig geworden. Die Poeſie des Menſchenge¬ ſchlechts hat mit einer rein epiſchen Symbolik begon¬ nen, und aus dieſer objectiven Weltpoeſie hat ſich allmaͤhlig erſt die ſubjective Lyrik entwickelt, ſo wie der Menſch ſelbſt immer freier und ſelbſtaͤndiger ge¬ worden iſt. Jene aͤlteſte Poeſie gieng aus einer harmo¬ niſchen, glaͤubigen Weltanſicht hervor, die neue Poeſie der Deutſchen dagegen aus einer zerrißnen, voͤllig disharmoniſchen und unglaͤubigen Anſicht der Dinge. Dort gieng man vom Ganzen zum Einzelnen uͤber, und von dem Äußern zum Innern, vom objectiven All zur ſubjectiven Perſoͤnlichkeit. Das alte mythi¬ ſche Epos zerfiel in Dramen, und dieſe wieder in ly¬ riſche Charaktere, wie aus der Theokratie die Hel¬ denkaͤmpfe, und aus dieſen die buͤrgerliche Freiheit hervorgieng. Äſchylos begann den Homer ins Drama zu uͤberſetzen, und Anakreon loͤſte wieder die lyriſchen Tiraden aus den Stuͤcken des Euripides, wie Bluͤ¬ then vom Baume los, und ließ ſie als lyriſche Blaͤt¬ ter frei herumfliegen. Eben ſo loͤſte ſich aus dem alten Tempelbau die Statue los und trat frei und ſtolz in die Mitte der heiligen Hallen, wie der Menſch
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die ſchoͤne Literatur gaͤnzlich unter Waſſer zu ſetzen
droht.
Dieſer Übergang iſt ſehr natuͤrlich. Wenn man
auch nicht behaupten darf, daß er der urſpruͤnglich
nothwendige Gang ſey, den die Poeſie jedes Volks,
oder uͤberhaupt des menſchlichen Geſchlechts nehmen
muͤſſe, ſo iſt er doch fuͤr unſer Volk und unſre Zeit
nothwendig geworden. Die Poeſie des Menſchenge¬
ſchlechts hat mit einer rein epiſchen Symbolik begon¬
nen, und aus dieſer objectiven Weltpoeſie hat ſich
allmaͤhlig erſt die ſubjective Lyrik entwickelt, ſo wie
der Menſch ſelbſt immer freier und ſelbſtaͤndiger ge¬
worden iſt. Jene aͤlteſte Poeſie gieng aus einer harmo¬
niſchen, glaͤubigen Weltanſicht hervor, die neue Poeſie
der Deutſchen dagegen aus einer zerrißnen, voͤllig
disharmoniſchen und unglaͤubigen Anſicht der Dinge.
Dort gieng man vom Ganzen zum Einzelnen uͤber,
und von dem Äußern zum Innern, vom objectiven
All zur ſubjectiven Perſoͤnlichkeit. Das alte mythi¬
ſche Epos zerfiel in Dramen, und dieſe wieder in ly¬
riſche Charaktere, wie aus der Theokratie die Hel¬
denkaͤmpfe, und aus dieſen die buͤrgerliche Freiheit
hervorgieng. Äſchylos begann den Homer ins Drama
zu uͤberſetzen, und Anakreon loͤſte wieder die lyriſchen
Tiraden aus den Stuͤcken des Euripides, wie Bluͤ¬
then vom Baume los, und ließ ſie als lyriſche Blaͤt¬
ter frei herumfliegen. Eben ſo loͤſte ſich aus dem
alten Tempelbau die Statue los und trat frei und
ſtolz in die Mitte der heiligen Hallen, wie der Menſch
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/254>, abgerufen am 22.11.2024.
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