lent, den Leser zu seinem Mitschuldigen zu machen, ihm ein billigendes Gefühl abzuzwingen. In seiner Hand war der Talisman, der alle Herzen lenkt. Kein Dichter hat sich des in der Sprache liegenden Zaubers so ganz bemächtigt. Er ist überall und im¬ mer gefällig, überredend. Wir können uns der süßen Lust nicht erwehren, mit der er unser Wesen befängt, uns selbst zum Gegentheil von alle dem verführt, was wir sonst geglaubt und gefühlt. Sehen wir auch die Sünde, die Gemeinheit klar vor Augen, er zwingt uns mit zu sündigen, mit gemein zu werden, und wir entkommen ihm nicht, ohne die Scham, uns einen Augenblick vergessen zu haben.
Es bedürfte wohl eines Platon, um gewisse Wahrheiten über Göthe, die an sich leicht erkennbar sind, doch auch mit derjenigen Mäßigung und Fein¬ heit zu rügen, welche die dem großem Dichter ge¬ bührende Achtung nicht verletzt. Man müßte wie Platon gegen Homer folgendermaßen reden: "Ich muß wohl damit heraus, wiewohl eine gewisse Zärtlich¬ keit und Schamhaftigkeit, die ich von Jugend auf gegen den Homer gefühlt habe, es mir schwer macht, von demselben zu reden. Denn er scheint unter allen guten tragischen Dichtern der Vorsänger und Anfüh¬ rer zu seyn. Weil indessen ein Mensch nicht höher, als die Wahrheit, geschätzt werden darf, so muß ich auch reden, wie ich denke. -- Wenn dir also, lie¬ ber Glaukon, Lobpreiser des Homer vorkommen, welche sagen, daß dieser Dichter ganz Griechenland
lent, den Leſer zu ſeinem Mitſchuldigen zu machen, ihm ein billigendes Gefuͤhl abzuzwingen. In ſeiner Hand war der Talisman, der alle Herzen lenkt. Kein Dichter hat ſich des in der Sprache liegenden Zaubers ſo ganz bemaͤchtigt. Er iſt uͤberall und im¬ mer gefaͤllig, uͤberredend. Wir koͤnnen uns der ſuͤßen Luſt nicht erwehren, mit der er unſer Weſen befaͤngt, uns ſelbſt zum Gegentheil von alle dem verfuͤhrt, was wir ſonſt geglaubt und gefuͤhlt. Sehen wir auch die Suͤnde, die Gemeinheit klar vor Augen, er zwingt uns mit zu ſuͤndigen, mit gemein zu werden, und wir entkommen ihm nicht, ohne die Scham, uns einen Augenblick vergeſſen zu haben.
Es beduͤrfte wohl eines Platon, um gewiſſe Wahrheiten uͤber Goͤthe, die an ſich leicht erkennbar ſind, doch auch mit derjenigen Maͤßigung und Fein¬ heit zu ruͤgen, welche die dem großem Dichter ge¬ buͤhrende Achtung nicht verletzt. Man muͤßte wie Platon gegen Homer folgendermaßen reden: „Ich muß wohl damit heraus, wiewohl eine gewiſſe Zaͤrtlich¬ keit und Schamhaftigkeit, die ich von Jugend auf gegen den Homer gefuͤhlt habe, es mir ſchwer macht, von demſelben zu reden. Denn er ſcheint unter allen guten tragiſchen Dichtern der Vorſaͤnger und Anfuͤh¬ rer zu ſeyn. Weil indeſſen ein Menſch nicht hoͤher, als die Wahrheit, geſchaͤtzt werden darf, ſo muß ich auch reden, wie ich denke. — Wenn dir alſo, lie¬ ber Glaukon, Lobpreiſer des Homer vorkommen, welche ſagen, daß dieſer Dichter ganz Griechenland
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lent, den Leſer zu ſeinem Mitſchuldigen zu machen,
ihm ein billigendes Gefuͤhl abzuzwingen. In ſeiner
Hand war der Talisman, der alle Herzen lenkt.
Kein Dichter hat ſich des in der Sprache liegenden
Zaubers ſo ganz bemaͤchtigt. Er iſt uͤberall und im¬
mer gefaͤllig, uͤberredend. Wir koͤnnen uns der ſuͤßen
Luſt nicht erwehren, mit der er unſer Weſen befaͤngt,
uns ſelbſt zum Gegentheil von alle dem verfuͤhrt, was
wir ſonſt geglaubt und gefuͤhlt. Sehen wir auch die
Suͤnde, die Gemeinheit klar vor Augen, er zwingt
uns mit zu ſuͤndigen, mit gemein zu werden, und
wir entkommen ihm nicht, ohne die Scham, uns
einen Augenblick vergeſſen zu haben.
Es beduͤrfte wohl eines Platon, um gewiſſe
Wahrheiten uͤber Goͤthe, die an ſich leicht erkennbar
ſind, doch auch mit derjenigen Maͤßigung und Fein¬
heit zu ruͤgen, welche die dem großem Dichter ge¬
buͤhrende Achtung nicht verletzt. Man muͤßte wie
Platon gegen Homer folgendermaßen reden: „Ich muß
wohl damit heraus, wiewohl eine gewiſſe Zaͤrtlich¬
keit und Schamhaftigkeit, die ich von Jugend auf
gegen den Homer gefuͤhlt habe, es mir ſchwer macht,
von demſelben zu reden. Denn er ſcheint unter allen
guten tragiſchen Dichtern der Vorſaͤnger und Anfuͤh¬
rer zu ſeyn. Weil indeſſen ein Menſch nicht hoͤher,
als die Wahrheit, geſchaͤtzt werden darf, ſo muß ich
auch reden, wie ich denke. — Wenn dir alſo, lie¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/232>, abgerufen am 22.11.2024.
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