Cultur und Convenienz, die wir uns zur andern Na¬ tur gemacht haben. Die Mängel und Gebrechen der wahren Natur werden mit dem Schleier dieser künst¬ lichen Natur zugedeckt. Die Dichter wählen daher ihre Nachbildungen der Wirklichkeit am liebsten aus den Kreisen, in welchen jene Kultur und Convenienz bereits am meisten herrschend geworden ist, aus dem Leben der höhern Stände. In dieser Hinsicht be¬ trachtet man die Dichter auch als Lehrer des An¬ standes und der feinen Sitte, und empfiehlt ihre Darstellungen den minder gebildeten Ständen und Lebensaltern zur Nacheiferung. Der Bürgerliche stu¬ dirt ebensowohl aus Romanen und Schauspielen, als aus dem Leben das Betragen der höhern Stände, und den Jünglingen und Mädchen giebt man diese Dichtungen weit öfter in der Absicht in die Hand, sie zu cultiviren, als in der Absicht, sie blos poetisch zu ergötzen.
Wer wollte die Gesittung, den feinen Anstand des äußern Betragens, die Zeichen wohlwollender Gesinnung tadeln! Obwohl sie nur Schein sind, so ist ein schöner Schein doch immer besser als ein hä߬ licher. Wiewohl sie nur ein Vorurtheil für den Men¬ schen erwecken, das oft trügt, so ist dieses Vorurtheil doch ein günstiges, und die Humanität verlangt, daß wir es für jeden uns unbekannten Menschen hegen. Es ist ein großer Fortschritt der menschlichen Bil¬ dung, daß wir dahin gelangt sind, äußerlich alle Menschen mit Wohlwollen zu behandeln und ein ähn¬
Cultur und Convenienz, die wir uns zur andern Na¬ tur gemacht haben. Die Maͤngel und Gebrechen der wahren Natur werden mit dem Schleier dieſer kuͤnſt¬ lichen Natur zugedeckt. Die Dichter waͤhlen daher ihre Nachbildungen der Wirklichkeit am liebſten aus den Kreiſen, in welchen jene Kultur und Convenienz bereits am meiſten herrſchend geworden iſt, aus dem Leben der hoͤhern Staͤnde. In dieſer Hinſicht be¬ trachtet man die Dichter auch als Lehrer des An¬ ſtandes und der feinen Sitte, und empfiehlt ihre Darſtellungen den minder gebildeten Staͤnden und Lebensaltern zur Nacheiferung. Der Buͤrgerliche ſtu¬ dirt ebenſowohl aus Romanen und Schauſpielen, als aus dem Leben das Betragen der hoͤhern Staͤnde, und den Juͤnglingen und Maͤdchen giebt man dieſe Dichtungen weit oͤfter in der Abſicht in die Hand, ſie zu cultiviren, als in der Abſicht, ſie blos poetiſch zu ergoͤtzen.
Wer wollte die Geſittung, den feinen Anſtand des aͤußern Betragens, die Zeichen wohlwollender Geſinnung tadeln! Obwohl ſie nur Schein ſind, ſo iſt ein ſchoͤner Schein doch immer beſſer als ein haͤ߬ licher. Wiewohl ſie nur ein Vorurtheil fuͤr den Men¬ ſchen erwecken, das oft truͤgt, ſo iſt dieſes Vorurtheil doch ein guͤnſtiges, und die Humanitaͤt verlangt, daß wir es fuͤr jeden uns unbekannten Menſchen hegen. Es iſt ein großer Fortſchritt der menſchlichen Bil¬ dung, daß wir dahin gelangt ſind, aͤußerlich alle Menſchen mit Wohlwollen zu behandeln und ein aͤhn¬
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Cultur und Convenienz, die wir uns zur andern Na¬
tur gemacht haben. Die Maͤngel und Gebrechen der
wahren Natur werden mit dem Schleier dieſer kuͤnſt¬
lichen Natur zugedeckt. Die Dichter waͤhlen daher
ihre Nachbildungen der Wirklichkeit am liebſten aus
den Kreiſen, in welchen jene Kultur und Convenienz
bereits am meiſten herrſchend geworden iſt, aus dem
Leben der hoͤhern Staͤnde. In dieſer Hinſicht be¬
trachtet man die Dichter auch als Lehrer des An¬
ſtandes und der feinen Sitte, und empfiehlt ihre
Darſtellungen den minder gebildeten Staͤnden und
Lebensaltern zur Nacheiferung. Der Buͤrgerliche ſtu¬
dirt ebenſowohl aus Romanen und Schauſpielen, als
aus dem Leben das Betragen der hoͤhern Staͤnde,
und den Juͤnglingen und Maͤdchen giebt man dieſe
Dichtungen weit oͤfter in der Abſicht in die Hand,
ſie zu cultiviren, als in der Abſicht, ſie blos poetiſch
zu ergoͤtzen.
Wer wollte die Geſittung, den feinen Anſtand
des aͤußern Betragens, die Zeichen wohlwollender
Geſinnung tadeln! Obwohl ſie nur Schein ſind, ſo
iſt ein ſchoͤner Schein doch immer beſſer als ein haͤ߬
licher. Wiewohl ſie nur ein Vorurtheil fuͤr den Men¬
ſchen erwecken, das oft truͤgt, ſo iſt dieſes Vorurtheil
doch ein guͤnſtiges, und die Humanitaͤt verlangt, daß
wir es fuͤr jeden uns unbekannten Menſchen hegen.
Es iſt ein großer Fortſchritt der menſchlichen Bil¬
dung, daß wir dahin gelangt ſind, aͤußerlich alle
Menſchen mit Wohlwollen zu behandeln und ein aͤhn¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/210>, abgerufen am 24.11.2024.
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