Welt dem Wunderbaren, das Alltägliche dem Idea¬ len entgegen. Sie ist nicht der Spiegel einer ver¬ gangnen oder einer idealen Welt, sondern der Spie¬ gel unsres eignen gegenwärtigen Lebens und Treibens.
In gewisser Hinsicht scheint diese moderne Poesie allerdings die einzige natürliche, nationelle und zeit¬ gemäße Poesie zu seyn, das natürliche Gewächs auf unserm eignen Boden, in derselben Weise, wie die griechische Poesie und die romantische des Mittelal¬ ters ganz ihrer Zeit angehörte. Und wer wollte läug¬ nen, daß nicht auch wirklich trotz aller Verzerrungen der Mode und der verdorbnen oder überfeinerten Sitten noch sehr viel Poetisches an uns ist, das wir als unser nächstes und gewissestes Eigenthum zu pfle¬ gen haben. Wir verwechseln aber leider nur zu oft das Schöne, was wirklich ist, mit dem Wirklichen, was wir für schön halten. Grade das Nächste, uns vor Augen Liegende verblendet und täuscht uns. Was wir selbst sind, haben und genießen, wünschen oder thun, scheint uns schon deßwegen schön. Egoismus, Gewohnheit und Mode lassen uns über das Fehler¬ hafte an uns selbst hinwegsehn und verderben unsern natürlichen Geschmack. Wir halten uns selbst, oder das, was wir haben oder begehren, für schön und einverleiben es unsrer modernen Poesie oder finden Gefallen daran, wenn uns Ähnliches auf dem Thea¬ ter oder in Romanen begegnet. Unsre eigne Eitel¬ keit oder unser Eigennutz täuscht uns über den poe¬ tischen Werth dieser Erscheinungen. Eben so stark
Welt dem Wunderbaren, das Alltaͤgliche dem Idea¬ len entgegen. Sie iſt nicht der Spiegel einer ver¬ gangnen oder einer idealen Welt, ſondern der Spie¬ gel unſres eignen gegenwaͤrtigen Lebens und Treibens.
In gewiſſer Hinſicht ſcheint dieſe moderne Poeſie allerdings die einzige natuͤrliche, nationelle und zeit¬ gemaͤße Poeſie zu ſeyn, das natuͤrliche Gewaͤchs auf unſerm eignen Boden, in derſelben Weiſe, wie die griechiſche Poeſie und die romantiſche des Mittelal¬ ters ganz ihrer Zeit angehoͤrte. Und wer wollte laͤug¬ nen, daß nicht auch wirklich trotz aller Verzerrungen der Mode und der verdorbnen oder uͤberfeinerten Sitten noch ſehr viel Poetiſches an uns iſt, das wir als unſer naͤchſtes und gewiſſeſtes Eigenthum zu pfle¬ gen haben. Wir verwechſeln aber leider nur zu oft das Schoͤne, was wirklich iſt, mit dem Wirklichen, was wir fuͤr ſchoͤn halten. Grade das Naͤchſte, uns vor Augen Liegende verblendet und taͤuſcht uns. Was wir ſelbſt ſind, haben und genießen, wuͤnſchen oder thun, ſcheint uns ſchon deßwegen ſchoͤn. Egoismus, Gewohnheit und Mode laſſen uns uͤber das Fehler¬ hafte an uns ſelbſt hinwegſehn und verderben unſern natuͤrlichen Geſchmack. Wir halten uns ſelbſt, oder das, was wir haben oder begehren, fuͤr ſchoͤn und einverleiben es unſrer modernen Poeſie oder finden Gefallen daran, wenn uns Ähnliches auf dem Thea¬ ter oder in Romanen begegnet. Unſre eigne Eitel¬ keit oder unſer Eigennutz taͤuſcht uns uͤber den poe¬ tiſchen Werth dieſer Erſcheinungen. Eben ſo ſtark
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Welt dem Wunderbaren, das Alltaͤgliche dem Idea¬
len entgegen. Sie iſt nicht der Spiegel einer ver¬
gangnen oder einer idealen Welt, ſondern der Spie¬
gel unſres eignen gegenwaͤrtigen Lebens und Treibens.
In gewiſſer Hinſicht ſcheint dieſe moderne Poeſie
allerdings die einzige natuͤrliche, nationelle und zeit¬
gemaͤße Poeſie zu ſeyn, das natuͤrliche Gewaͤchs auf
unſerm eignen Boden, in derſelben Weiſe, wie die
griechiſche Poeſie und die romantiſche des Mittelal¬
ters ganz ihrer Zeit angehoͤrte. Und wer wollte laͤug¬
nen, daß nicht auch wirklich trotz aller Verzerrungen
der Mode und der verdorbnen oder uͤberfeinerten
Sitten noch ſehr viel Poetiſches an uns iſt, das wir
als unſer naͤchſtes und gewiſſeſtes Eigenthum zu pfle¬
gen haben. Wir verwechſeln aber leider nur zu oft
das Schoͤne, was wirklich iſt, mit dem Wirklichen,
was wir fuͤr ſchoͤn halten. Grade das Naͤchſte, uns
vor Augen Liegende verblendet und taͤuſcht uns. Was
wir ſelbſt ſind, haben und genießen, wuͤnſchen oder
thun, ſcheint uns ſchon deßwegen ſchoͤn. Egoismus,
Gewohnheit und Mode laſſen uns uͤber das Fehler¬
hafte an uns ſelbſt hinwegſehn und verderben unſern
natuͤrlichen Geſchmack. Wir halten uns ſelbſt, oder
das, was wir haben oder begehren, fuͤr ſchoͤn und
einverleiben es unſrer modernen Poeſie oder finden
Gefallen daran, wenn uns Ähnliches auf dem Thea¬
ter oder in Romanen begegnet. Unſre eigne Eitel¬
keit oder unſer Eigennutz taͤuſcht uns uͤber den poe¬
tiſchen Werth dieſer Erſcheinungen. Eben ſo ſtark
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/198>, abgerufen am 25.11.2024.
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