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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Aus allem bisher Gesagten erhellt nun wohl von
selbst, warum der historische Roman gerade in uns¬
rer Zeit und so allgemein und bei allen gebildeten
Völkern übereinstimmend kultivirt wird. Obgleich die
Engländer den Ton angegeben haben, so versteht ihn
doch nicht blos das englische, sondern jedes Ohr.
Den Engländern gebührte der Vorgang, weil sie von
jeher auf Nationalität besser gehalten haben, als an¬
dre Völker. Es ist aber hier nicht von englischer
Volkspoesie die Rede, sondern von Volkspoesie über¬
haupt. Man ahmt in Walter Scott nicht den Eng¬
länder, sondern den Dichter der Vergangenheit nach,
und jede Nation hat die ihrige. Darum haben ge¬
gen Walter Scott alle die nationellen Vorurtheile
geschwiegen, die sich sonst so laut gegen andre fremde
Dichter geltend gemacht haben. Walter Scott's Ma¬
nier ist überall nationell, wo eine Nation sich selber
fühlt und begreift, und nur aus solchen Ländern ver¬
nehmen wir kein Echo seiner Stimme, in denen das
Volk unter despotischem Druck noch schläft, noch
nichts von sich selber weiß. --

Wir wenden uns nun zur modernen Poesie,
die wir oben als die dritte Hauptgattung und Schule
unsrer Poesie von der antiken und romantischen un¬
terschieden haben. Das charakteristische Unterschei¬
dungszeichen derselben ist, daß sie sich lediglich an
die Gegenwart hält, und nur die heutigen Menschen
und ihre Verhältnisse schildert. Sie stellt die Gegen¬
wart dem Alterthum und Mittelalter, die wirkliche

Aus allem bisher Geſagten erhellt nun wohl von
ſelbſt, warum der hiſtoriſche Roman gerade in unſ¬
rer Zeit und ſo allgemein und bei allen gebildeten
Voͤlkern uͤbereinſtimmend kultivirt wird. Obgleich die
Englaͤnder den Ton angegeben haben, ſo verſteht ihn
doch nicht blos das engliſche, ſondern jedes Ohr.
Den Englaͤndern gebuͤhrte der Vorgang, weil ſie von
jeher auf Nationalitaͤt beſſer gehalten haben, als an¬
dre Voͤlker. Es iſt aber hier nicht von engliſcher
Volkspoeſie die Rede, ſondern von Volkspoeſie uͤber¬
haupt. Man ahmt in Walter Scott nicht den Eng¬
laͤnder, ſondern den Dichter der Vergangenheit nach,
und jede Nation hat die ihrige. Darum haben ge¬
gen Walter Scott alle die nationellen Vorurtheile
geſchwiegen, die ſich ſonſt ſo laut gegen andre fremde
Dichter geltend gemacht haben. Walter Scott's Ma¬
nier iſt uͤberall nationell, wo eine Nation ſich ſelber
fuͤhlt und begreift, und nur aus ſolchen Laͤndern ver¬
nehmen wir kein Echo ſeiner Stimme, in denen das
Volk unter despotiſchem Druck noch ſchlaͤft, noch
nichts von ſich ſelber weiß. —

Wir wenden uns nun zur modernen Poeſie,
die wir oben als die dritte Hauptgattung und Schule
unſrer Poeſie von der antiken und romantiſchen un¬
terſchieden haben. Das charakteriſtiſche Unterſchei¬
dungszeichen derſelben iſt, daß ſie ſich lediglich an
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[187/0197] Aus allem bisher Geſagten erhellt nun wohl von ſelbſt, warum der hiſtoriſche Roman gerade in unſ¬ rer Zeit und ſo allgemein und bei allen gebildeten Voͤlkern uͤbereinſtimmend kultivirt wird. Obgleich die Englaͤnder den Ton angegeben haben, ſo verſteht ihn doch nicht blos das engliſche, ſondern jedes Ohr. Den Englaͤndern gebuͤhrte der Vorgang, weil ſie von jeher auf Nationalitaͤt beſſer gehalten haben, als an¬ dre Voͤlker. Es iſt aber hier nicht von engliſcher Volkspoeſie die Rede, ſondern von Volkspoeſie uͤber¬ haupt. Man ahmt in Walter Scott nicht den Eng¬ laͤnder, ſondern den Dichter der Vergangenheit nach, und jede Nation hat die ihrige. Darum haben ge¬ gen Walter Scott alle die nationellen Vorurtheile geſchwiegen, die ſich ſonſt ſo laut gegen andre fremde Dichter geltend gemacht haben. Walter Scott's Ma¬ nier iſt uͤberall nationell, wo eine Nation ſich ſelber fuͤhlt und begreift, und nur aus ſolchen Laͤndern ver¬ nehmen wir kein Echo ſeiner Stimme, in denen das Volk unter despotiſchem Druck noch ſchlaͤft, noch nichts von ſich ſelber weiß. — Wir wenden uns nun zur modernen Poeſie, die wir oben als die dritte Hauptgattung und Schule unſrer Poeſie von der antiken und romantiſchen un¬ terſchieden haben. Das charakteriſtiſche Unterſchei¬ dungszeichen derſelben iſt, daß ſie ſich lediglich an die Gegenwart haͤlt, und nur die heutigen Menſchen und ihre Verhaͤltniſſe ſchildert. Sie ſtellt die Gegen¬ wart dem Alterthum und Mittelalter, die wirkliche

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 187. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/197>, abgerufen am 25.11.2024.