sucht er den Ruhm darin, der Natur und Wirklich¬ keit treu zu bleiben, so reiht er sich wirklich an den Historiker an. Der Roman ist sodann nur eine freiere Form der Geschichtschreibung, aber eine Form, worin sich der Geist der Geschichte oft treuer spiegelt, als in bloßen trocknen Berichten. In gewissen altfran¬ zösischen und altenglischen Romanen werden wir bes¬ ser über die Sitten der Zeit und über die Physiogno¬ mie der Nation unterrichtet, als in irgend einem Historiker; oder denken wir an Cervantes Novellen, welcher spanische Geschichtschreiber hat uns so leben¬ dig in die Mitte jener Zeit und Lokalität versetzt? Man darf also wohl behaupten, daß der Historiker nicht unrecht thut, wenn er den Romanschreiber zu Hülfe ruft. Dies ist in der neuen Zeit um so nöthi¬ ger, als in derselben der Stoff der Geschichte uner¬ meßlich zugenommen hat, und vom Standpunkt des Romandichters, Biographen und Memoiristen aus allein in seiner Vielseitigkeit genügend aufgefaßt wer¬ den kann. Seit der Reformation ist die Geschichte immer verwickelter geworden, der Geschichtschreiber kann sich nur an den Gang der Hauptbegebenheiten halten, die unzählbaren kleinen Episoden, worin das Einzelne zu beleuchten ist, muß er den Biographen und vorzüglich den Romanschriftstellern überlassen, die solche kleine Detailgemälde in den schicklichsten Rah¬ men zu fassen wissen, und in deren Werken die Nach¬ welt sich das Vergangene lebendiger vergegenwärtigen wird, als in unsern Zeitungen.
ſucht er den Ruhm darin, der Natur und Wirklich¬ keit treu zu bleiben, ſo reiht er ſich wirklich an den Hiſtoriker an. Der Roman iſt ſodann nur eine freiere Form der Geſchichtſchreibung, aber eine Form, worin ſich der Geiſt der Geſchichte oft treuer ſpiegelt, als in bloßen trocknen Berichten. In gewiſſen altfran¬ zoͤſiſchen und altengliſchen Romanen werden wir beſ¬ ſer uͤber die Sitten der Zeit und uͤber die Phyſiogno¬ mie der Nation unterrichtet, als in irgend einem Hiſtoriker; oder denken wir an Cervantes Novellen, welcher ſpaniſche Geſchichtſchreiber hat uns ſo leben¬ dig in die Mitte jener Zeit und Lokalitaͤt verſetzt? Man darf alſo wohl behaupten, daß der Hiſtoriker nicht unrecht thut, wenn er den Romanſchreiber zu Huͤlfe ruft. Dies iſt in der neuen Zeit um ſo noͤthi¬ ger, als in derſelben der Stoff der Geſchichte uner¬ meßlich zugenommen hat, und vom Standpunkt des Romandichters, Biographen und Memoiriſten aus allein in ſeiner Vielſeitigkeit genuͤgend aufgefaßt wer¬ den kann. Seit der Reformation iſt die Geſchichte immer verwickelter geworden, der Geſchichtſchreiber kann ſich nur an den Gang der Hauptbegebenheiten halten, die unzaͤhlbaren kleinen Epiſoden, worin das Einzelne zu beleuchten iſt, muß er den Biographen und vorzuͤglich den Romanſchriftſtellern uͤberlaſſen, die ſolche kleine Detailgemaͤlde in den ſchicklichſten Rah¬ men zu faſſen wiſſen, und in deren Werken die Nach¬ welt ſich das Vergangene lebendiger vergegenwaͤrtigen wird, als in unſern Zeitungen.
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ſucht er den Ruhm darin, der Natur und Wirklich¬
keit treu zu bleiben, ſo reiht er ſich wirklich an den
Hiſtoriker an. Der Roman iſt ſodann nur eine freiere
Form der Geſchichtſchreibung, aber eine Form, worin
ſich der Geiſt der Geſchichte oft treuer ſpiegelt, als
in bloßen trocknen Berichten. In gewiſſen altfran¬
zoͤſiſchen und altengliſchen Romanen werden wir beſ¬
ſer uͤber die Sitten der Zeit und uͤber die Phyſiogno¬
mie der Nation unterrichtet, als in irgend einem
Hiſtoriker; oder denken wir an Cervantes Novellen,
welcher ſpaniſche Geſchichtſchreiber hat uns ſo leben¬
dig in die Mitte jener Zeit und Lokalitaͤt verſetzt?
Man darf alſo wohl behaupten, daß der Hiſtoriker
nicht unrecht thut, wenn er den Romanſchreiber zu
Huͤlfe ruft. Dies iſt in der neuen Zeit um ſo noͤthi¬
ger, als in derſelben der Stoff der Geſchichte uner¬
meßlich zugenommen hat, und vom Standpunkt des
Romandichters, Biographen und Memoiriſten aus
allein in ſeiner Vielſeitigkeit genuͤgend aufgefaßt wer¬
den kann. Seit der Reformation iſt die Geſchichte
immer verwickelter geworden, der Geſchichtſchreiber
kann ſich nur an den Gang der Hauptbegebenheiten
halten, die unzaͤhlbaren kleinen Epiſoden, worin das
Einzelne zu beleuchten iſt, muß er den Biographen
und vorzuͤglich den Romanſchriftſtellern uͤberlaſſen, die
ſolche kleine Detailgemaͤlde in den ſchicklichſten Rah¬
men zu faſſen wiſſen, und in deren Werken die Nach¬
welt ſich das Vergangene lebendiger vergegenwaͤrtigen
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/196>, abgerufen am 25.11.2024.
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