Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

lent." Um so erfreulicher ist es aber, daß Tieck selbst
versucht hat, dieses Wenige zu ergänzen, und wer
findet nicht, daß es in seiner walterscottisirenden No¬
velle, der Aufruhr in den Cevennen, wirklich er¬
gänzt ist? Es fragt sich hier nicht, wie dieser oder
jener Dichter den historischen Roman verunstaltet
und mißbraucht hat, sondern, was überhaupt in ihm
für poetische Anlagen zu Grunde liegen, die dann
der eine allerdings mißbrauchen, ein anderer aber
auch vollendet ausbilden wird.

Walter Scott hat unläugbar das Verdienst, den
historischen Roman als eine eigenthümliche poetische
Gattung begründet zu haben, wenn er auch noch nicht
das Höchste darin geleistet hat. Zwar gab es schon
vor ihm genug historische Romane, aber ihre Ten¬
denz war doch eine andere. Das Geschichtliche war
nur Vehikel für gewisse philosophische und moralische
Ideen. Man bediente sich der Geschichte, um ideale
Charaktere daraus hervorzuheben, oder hineinzutra¬
gen, und um sie gleich der Natur zum bloßen Hin¬
tergrunde für einzelne Helden- und Familiengruppen
zu machen. Die Romantik nahm ein historisches Ge¬
wand an, aber das hatte man noch nicht begriffen,
daß die Geschichte selbst eingeborne Romantik sey.
Man hatte geschichtliche Romane, wie man bürger¬
liche, ländliche und Familienromane hatte, aber man
besaß keine romantische Geschichte. Der Held des
Romans war eine historische Person, und hätte eben
so gut nur eine gedichtete seyn dürfen, weil es nur

lent.“ Um ſo erfreulicher iſt es aber, daß Tieck ſelbſt
verſucht hat, dieſes Wenige zu ergaͤnzen, und wer
findet nicht, daß es in ſeiner walterſcottiſirenden No¬
velle, der Aufruhr in den Cevennen, wirklich er¬
gaͤnzt iſt? Es fragt ſich hier nicht, wie dieſer oder
jener Dichter den hiſtoriſchen Roman verunſtaltet
und mißbraucht hat, ſondern, was uͤberhaupt in ihm
fuͤr poetiſche Anlagen zu Grunde liegen, die dann
der eine allerdings mißbrauchen, ein anderer aber
auch vollendet ausbilden wird.

Walter Scott hat unlaͤugbar das Verdienſt, den
hiſtoriſchen Roman als eine eigenthuͤmliche poetiſche
Gattung begruͤndet zu haben, wenn er auch noch nicht
das Hoͤchſte darin geleiſtet hat. Zwar gab es ſchon
vor ihm genug hiſtoriſche Romane, aber ihre Ten¬
denz war doch eine andere. Das Geſchichtliche war
nur Vehikel fuͤr gewiſſe philoſophiſche und moraliſche
Ideen. Man bediente ſich der Geſchichte, um ideale
Charaktere daraus hervorzuheben, oder hineinzutra¬
gen, und um ſie gleich der Natur zum bloßen Hin¬
tergrunde fuͤr einzelne Helden- und Familiengruppen
zu machen. Die Romantik nahm ein hiſtoriſches Ge¬
wand an, aber das hatte man noch nicht begriffen,
daß die Geſchichte ſelbſt eingeborne Romantik ſey.
Man hatte geſchichtliche Romane, wie man buͤrger¬
liche, laͤndliche und Familienromane hatte, aber man
beſaß keine romantiſche Geſchichte. Der Held des
Romans war eine hiſtoriſche Perſon, und haͤtte eben
ſo gut nur eine gedichtete ſeyn duͤrfen, weil es nur

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0177" n="167"/>
lent.&#x201C; Um &#x017F;o erfreulicher i&#x017F;t es aber, daß Tieck &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
ver&#x017F;ucht hat, die&#x017F;es Wenige zu erga&#x0364;nzen, und wer<lb/>
findet nicht, daß es in &#x017F;einer walter&#x017F;cotti&#x017F;irenden No¬<lb/>
velle, der Aufruhr in den Cevennen, wirklich er¬<lb/>
ga&#x0364;nzt i&#x017F;t? Es fragt &#x017F;ich hier nicht, wie die&#x017F;er oder<lb/>
jener Dichter den hi&#x017F;tori&#x017F;chen Roman verun&#x017F;taltet<lb/>
und mißbraucht hat, &#x017F;ondern, was u&#x0364;berhaupt in ihm<lb/>
fu&#x0364;r poeti&#x017F;che Anlagen zu Grunde liegen, die dann<lb/>
der eine allerdings mißbrauchen, ein anderer aber<lb/>
auch vollendet ausbilden wird.</p><lb/>
        <p>Walter Scott hat unla&#x0364;ugbar das Verdien&#x017F;t, den<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;chen Roman als eine eigenthu&#x0364;mliche poeti&#x017F;che<lb/>
Gattung begru&#x0364;ndet zu haben, wenn er auch noch nicht<lb/>
das Ho&#x0364;ch&#x017F;te darin gelei&#x017F;tet hat. Zwar gab es &#x017F;chon<lb/>
vor ihm genug hi&#x017F;tori&#x017F;che Romane, aber ihre Ten¬<lb/>
denz war doch eine andere. Das Ge&#x017F;chichtliche war<lb/>
nur Vehikel fu&#x0364;r gewi&#x017F;&#x017F;e philo&#x017F;ophi&#x017F;che und morali&#x017F;che<lb/>
Ideen. Man bediente &#x017F;ich der Ge&#x017F;chichte, um ideale<lb/>
Charaktere daraus hervorzuheben, oder hineinzutra¬<lb/>
gen, und um &#x017F;ie gleich der Natur zum bloßen Hin¬<lb/>
tergrunde fu&#x0364;r einzelne Helden- und Familiengruppen<lb/>
zu machen. Die Romantik nahm ein hi&#x017F;tori&#x017F;ches Ge¬<lb/>
wand an, aber das hatte man noch nicht begriffen,<lb/>
daß die Ge&#x017F;chichte &#x017F;elb&#x017F;t eingeborne Romantik &#x017F;ey.<lb/>
Man hatte ge&#x017F;chichtliche Romane, wie man bu&#x0364;rger¬<lb/>
liche, la&#x0364;ndliche und Familienromane hatte, aber man<lb/>
be&#x017F;aß keine romanti&#x017F;che Ge&#x017F;chichte. Der Held des<lb/>
Romans war eine hi&#x017F;tori&#x017F;che Per&#x017F;on, und ha&#x0364;tte eben<lb/>
&#x017F;o gut nur eine gedichtete &#x017F;eyn du&#x0364;rfen, weil es nur<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0177] lent.“ Um ſo erfreulicher iſt es aber, daß Tieck ſelbſt verſucht hat, dieſes Wenige zu ergaͤnzen, und wer findet nicht, daß es in ſeiner walterſcottiſirenden No¬ velle, der Aufruhr in den Cevennen, wirklich er¬ gaͤnzt iſt? Es fragt ſich hier nicht, wie dieſer oder jener Dichter den hiſtoriſchen Roman verunſtaltet und mißbraucht hat, ſondern, was uͤberhaupt in ihm fuͤr poetiſche Anlagen zu Grunde liegen, die dann der eine allerdings mißbrauchen, ein anderer aber auch vollendet ausbilden wird. Walter Scott hat unlaͤugbar das Verdienſt, den hiſtoriſchen Roman als eine eigenthuͤmliche poetiſche Gattung begruͤndet zu haben, wenn er auch noch nicht das Hoͤchſte darin geleiſtet hat. Zwar gab es ſchon vor ihm genug hiſtoriſche Romane, aber ihre Ten¬ denz war doch eine andere. Das Geſchichtliche war nur Vehikel fuͤr gewiſſe philoſophiſche und moraliſche Ideen. Man bediente ſich der Geſchichte, um ideale Charaktere daraus hervorzuheben, oder hineinzutra¬ gen, und um ſie gleich der Natur zum bloßen Hin¬ tergrunde fuͤr einzelne Helden- und Familiengruppen zu machen. Die Romantik nahm ein hiſtoriſches Ge¬ wand an, aber das hatte man noch nicht begriffen, daß die Geſchichte ſelbſt eingeborne Romantik ſey. Man hatte geſchichtliche Romane, wie man buͤrger¬ liche, laͤndliche und Familienromane hatte, aber man beſaß keine romantiſche Geſchichte. Der Held des Romans war eine hiſtoriſche Perſon, und haͤtte eben ſo gut nur eine gedichtete ſeyn duͤrfen, weil es nur

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/177
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/177>, abgerufen am 24.11.2024.