humanen, idealisirenden Poesie versteckt oder gänzlich unbekannt. Man wählte zwar Menschen und Bege¬ benheiten aus allen Nationen zu den Darstellungen in Schauspielen und Romanen, doch unterwarf man sie einer allgemeinen Norm. Man wollte Menschen darstellen, und das Costum war nur eine unbedeu¬ tende Nebenzierde oder wurde gänzlich vernachlässigt. Bei Lessing und Wieland ist diese Unterordnung noch unverkennbar. Erst Herder machte auf die poetische Tiefe im Volksthum, im Naturell der Nationen auf¬ merksam. Zwar wird das ganze Streben dieses gro¬ ßen Mannes durch die reinste und echteste Humani¬ tät bezeichnet, und er suchte auch in den Völkern im¬ mer nur den Menschen, aber er füllte die Kluft aus, die bisher zwischen dem wirklichen und nationalisir¬ ten Menschen und zwischen dem Abstraktum eines idealen Menschen bestanden hatte. Er arbeitete jener freimaurerischen Ansicht, die den Menschen von der Nation, dem Zeitalter und der Natur losreißen und als Glied einer höhern allgemeinen Gesellschaft hin¬ stellen will, mit der weit natürlichern Ansicht entge¬ gen, daß die Humanität ihren Entwicklungsgang nur innerhalb der Nationalität und des Volksnaturells, wie der Saft im Baume nehmen könne.
Die Humanität hat nothwendig zwei oberste Rich¬ tungen. Die eine führt in die Höhe; sie sucht das Ideal, das Ziel im Wahren, Schönen und Guten, denn nur in diesem Ideal oder in dem Streben dar¬ nach ist das einige Band um die Menschheit geschlun¬
humanen, idealiſirenden Poeſie verſteckt oder gaͤnzlich unbekannt. Man waͤhlte zwar Menſchen und Bege¬ benheiten aus allen Nationen zu den Darſtellungen in Schauſpielen und Romanen, doch unterwarf man ſie einer allgemeinen Norm. Man wollte Menſchen darſtellen, und das Coſtum war nur eine unbedeu¬ tende Nebenzierde oder wurde gaͤnzlich vernachlaͤſſigt. Bei Leſſing und Wieland iſt dieſe Unterordnung noch unverkennbar. Erſt Herder machte auf die poetiſche Tiefe im Volksthum, im Naturell der Nationen auf¬ merkſam. Zwar wird das ganze Streben dieſes gro¬ ßen Mannes durch die reinſte und echteſte Humani¬ taͤt bezeichnet, und er ſuchte auch in den Voͤlkern im¬ mer nur den Menſchen, aber er fuͤllte die Kluft aus, die bisher zwiſchen dem wirklichen und nationaliſir¬ ten Menſchen und zwiſchen dem Abſtraktum eines idealen Menſchen beſtanden hatte. Er arbeitete jener freimaureriſchen Anſicht, die den Menſchen von der Nation, dem Zeitalter und der Natur losreißen und als Glied einer hoͤhern allgemeinen Geſellſchaft hin¬ ſtellen will, mit der weit natuͤrlichern Anſicht entge¬ gen, daß die Humanitaͤt ihren Entwicklungsgang nur innerhalb der Nationalitaͤt und des Volksnaturells, wie der Saft im Baume nehmen koͤnne.
Die Humanitaͤt hat nothwendig zwei oberſte Rich¬ tungen. Die eine fuͤhrt in die Hoͤhe; ſie ſucht das Ideal, das Ziel im Wahren, Schoͤnen und Guten, denn nur in dieſem Ideal oder in dem Streben dar¬ nach iſt das einige Band um die Menſchheit geſchlun¬
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humanen, idealiſirenden Poeſie verſteckt oder gaͤnzlich
unbekannt. Man waͤhlte zwar Menſchen und Bege¬
benheiten aus allen Nationen zu den Darſtellungen
in Schauſpielen und Romanen, doch unterwarf man
ſie einer allgemeinen Norm. Man wollte Menſchen
darſtellen, und das Coſtum war nur eine unbedeu¬
tende Nebenzierde oder wurde gaͤnzlich vernachlaͤſſigt.
Bei Leſſing und Wieland iſt dieſe Unterordnung noch
unverkennbar. Erſt Herder machte auf die poetiſche
Tiefe im Volksthum, im Naturell der Nationen auf¬
merkſam. Zwar wird das ganze Streben dieſes gro¬
ßen Mannes durch die reinſte und echteſte Humani¬
taͤt bezeichnet, und er ſuchte auch in den Voͤlkern im¬
mer nur den Menſchen, aber er fuͤllte die Kluft aus,
die bisher zwiſchen dem wirklichen und nationaliſir¬
ten Menſchen und zwiſchen dem Abſtraktum eines
idealen Menſchen beſtanden hatte. Er arbeitete jener
freimaureriſchen Anſicht, die den Menſchen von der
Nation, dem Zeitalter und der Natur losreißen und
als Glied einer hoͤhern allgemeinen Geſellſchaft hin¬
ſtellen will, mit der weit natuͤrlichern Anſicht entge¬
gen, daß die Humanitaͤt ihren Entwicklungsgang nur
innerhalb der Nationalitaͤt und des Volksnaturells,
wie der Saft im Baume nehmen koͤnne.
Die Humanitaͤt hat nothwendig zwei oberſte Rich¬
tungen. Die eine fuͤhrt in die Hoͤhe; ſie ſucht das
Ideal, das Ziel im Wahren, Schoͤnen und Guten,
denn nur in dieſem Ideal oder in dem Streben dar¬
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/165>, abgerufen am 24.11.2024.
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