immer durch alle Phrasen hindurch, und man kann darauf nur anwenden, was Platon einmal sagt: "Wir dürfen uns nicht überreden lassen, noch leiden, daß ein Gott so furchtbare und gottlose Dinge ver¬ übt habe, wie lügenhafte Dichter jetzt von ihm sagen. Vielmehr müssen wir die Dichter dazu anhalten, daß sie entweder nicht diese Handlungen von den Helden erzählen, oder daß sie dieselben nicht für Söhne der Götter ausgeben."
Noch eins find ich an dieser Gattung von Schick¬ salstragödien bemerkenswerth. Sie sind unnatürlich, gekünstelt, forcirt von ihrer Entstehung an. Sie gehn nicht aus einem Drange des Gemüths hervor, son¬ dern aus einer Berechnung des Verstandes, der et¬ was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es ist dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um Recensentenlob zu thun. Daher die merkwürdige Er¬ scheinung der Selbstrecension schon im Stück. Die Helden reflectiren auf dem Theater selbst in wohlge¬ setzten Versen über ihre tragische Bedeutsamkeit und Originalität. Der Dichter arbeitet dem Recensenten vor, und weist immer auf den Paragraphen seiner Ästhetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬ rührt werden sollen, wir sollen nur das stupende Ge¬ nie des Dichters bewundern, analysiren, kritisiren. Wir sollen nicht selbst tragisch erschüttert werden, uns nicht selbst fürchten oder erschrecken, sondern nur einsehn, daß die Tragödie diese Wirkung bei Andern hervorbringen könnte. Und das Parterre ist
immer durch alle Phraſen hindurch, und man kann darauf nur anwenden, was Platon einmal ſagt: «Wir duͤrfen uns nicht uͤberreden laſſen, noch leiden, daß ein Gott ſo furchtbare und gottloſe Dinge ver¬ uͤbt habe, wie luͤgenhafte Dichter jetzt von ihm ſagen. Vielmehr muͤſſen wir die Dichter dazu anhalten, daß ſie entweder nicht dieſe Handlungen von den Helden erzaͤhlen, oder daß ſie dieſelben nicht fuͤr Soͤhne der Goͤtter ausgeben.»
Noch eins find ich an dieſer Gattung von Schick¬ ſalstragoͤdien bemerkenswerth. Sie ſind unnatuͤrlich, gekuͤnſtelt, forcirt von ihrer Entſtehung an. Sie gehn nicht aus einem Drange des Gemuͤths hervor, ſon¬ dern aus einer Berechnung des Verſtandes, der et¬ was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es iſt dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um Recenſentenlob zu thun. Daher die merkwuͤrdige Er¬ ſcheinung der Selbſtrecenſion ſchon im Stuͤck. Die Helden reflectiren auf dem Theater ſelbſt in wohlge¬ ſetzten Verſen uͤber ihre tragiſche Bedeutſamkeit und Originalitaͤt. Der Dichter arbeitet dem Recenſenten vor, und weist immer auf den Paragraphen ſeiner Äſthetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬ ruͤhrt werden ſollen, wir ſollen nur das ſtupende Ge¬ nie des Dichters bewundern, analyſiren, kritiſiren. Wir ſollen nicht ſelbſt tragiſch erſchuͤttert werden, uns nicht ſelbſt fuͤrchten oder erſchrecken, ſondern nur einſehn, daß die Tragoͤdie dieſe Wirkung bei Andern hervorbringen koͤnnte. Und das Parterre iſt
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0122"n="112"/>
immer durch alle Phraſen hindurch, und man kann<lb/>
darauf nur anwenden, was Platon einmal ſagt:<lb/>
«Wir duͤrfen uns nicht uͤberreden laſſen, noch leiden,<lb/>
daß ein Gott ſo furchtbare und gottloſe Dinge ver¬<lb/>
uͤbt habe, wie luͤgenhafte Dichter jetzt von ihm ſagen.<lb/>
Vielmehr muͤſſen wir die Dichter dazu anhalten, daß<lb/>ſie entweder nicht dieſe Handlungen von den Helden<lb/>
erzaͤhlen, oder daß ſie dieſelben nicht fuͤr Soͤhne der<lb/>
Goͤtter ausgeben.»</p><lb/><p>Noch eins find ich an dieſer Gattung von Schick¬<lb/>ſalstragoͤdien bemerkenswerth. Sie ſind unnatuͤrlich,<lb/>
gekuͤnſtelt, forcirt von ihrer Entſtehung an. Sie gehn<lb/>
nicht aus einem Drange des Gemuͤths hervor, ſon¬<lb/>
dern aus einer Berechnung des Verſtandes, der et¬<lb/>
was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es<lb/>
iſt dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um<lb/>
Recenſentenlob zu thun. Daher die merkwuͤrdige Er¬<lb/>ſcheinung der Selbſtrecenſion ſchon im Stuͤck. Die<lb/>
Helden reflectiren auf dem Theater ſelbſt in wohlge¬<lb/>ſetzten Verſen uͤber ihre tragiſche Bedeutſamkeit und<lb/>
Originalitaͤt. Der Dichter arbeitet dem Recenſenten<lb/>
vor, und weist immer auf den Paragraphen ſeiner<lb/>
Äſthetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬<lb/>
ruͤhrt werden ſollen, wir ſollen nur das ſtupende Ge¬<lb/>
nie des Dichters bewundern, analyſiren, kritiſiren.<lb/>
Wir ſollen nicht ſelbſt tragiſch erſchuͤttert werden,<lb/>
uns nicht ſelbſt fuͤrchten oder erſchrecken, ſondern<lb/>
nur einſehn, daß die Tragoͤdie dieſe Wirkung bei<lb/>
Andern hervorbringen koͤnnte. Und das Parterre iſt<lb/></p></div></body></text></TEI>
[112/0122]
immer durch alle Phraſen hindurch, und man kann
darauf nur anwenden, was Platon einmal ſagt:
«Wir duͤrfen uns nicht uͤberreden laſſen, noch leiden,
daß ein Gott ſo furchtbare und gottloſe Dinge ver¬
uͤbt habe, wie luͤgenhafte Dichter jetzt von ihm ſagen.
Vielmehr muͤſſen wir die Dichter dazu anhalten, daß
ſie entweder nicht dieſe Handlungen von den Helden
erzaͤhlen, oder daß ſie dieſelben nicht fuͤr Soͤhne der
Goͤtter ausgeben.»
Noch eins find ich an dieſer Gattung von Schick¬
ſalstragoͤdien bemerkenswerth. Sie ſind unnatuͤrlich,
gekuͤnſtelt, forcirt von ihrer Entſtehung an. Sie gehn
nicht aus einem Drange des Gemuͤths hervor, ſon¬
dern aus einer Berechnung des Verſtandes, der et¬
was Neues, Außerordentliches erzwingen will. Es
iſt dem Dichter um Effect, um ephemeren Ruhm, um
Recenſentenlob zu thun. Daher die merkwuͤrdige Er¬
ſcheinung der Selbſtrecenſion ſchon im Stuͤck. Die
Helden reflectiren auf dem Theater ſelbſt in wohlge¬
ſetzten Verſen uͤber ihre tragiſche Bedeutſamkeit und
Originalitaͤt. Der Dichter arbeitet dem Recenſenten
vor, und weist immer auf den Paragraphen ſeiner
Äſthetik hin. Er will eigentlich nicht, daß wir ge¬
ruͤhrt werden ſollen, wir ſollen nur das ſtupende Ge¬
nie des Dichters bewundern, analyſiren, kritiſiren.
Wir ſollen nicht ſelbſt tragiſch erſchuͤttert werden,
uns nicht ſelbſt fuͤrchten oder erſchrecken, ſondern
nur einſehn, daß die Tragoͤdie dieſe Wirkung bei
Andern hervorbringen koͤnnte. Und das Parterre iſt
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/122>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.