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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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gefunden. Auch für die Satyre gegen den Aberglau
ben bietet sich kein besserer Stoff dar, als das Wun¬
derbare, das man ironisch behandelt. Schlechter¬
dings verwerflich aber ist die ungläubige, spöttische
Behandlung echter alter Volksmährchen, wodurch ihr
ganzer Zauber verloren geht. Musäus hat hierin
schon gefehlt, Tieck aber die beste Manier getroffen.
Das Wunderbare ist wie das Wirkliche ernst und
heilig oder komisch und profan, beides in einer hö¬
hern Potenz. So hat Tieck das Heilige in tiefsin¬
nigen, ernsten, romantischen Schauspielen und No¬
vellen, das Komische in den lustigsten und geistreich¬
sten Possen von der Welt behandelt. Für das Trauer¬
spiel eignet sich das Wunderbare der Begebenheiten
nicht, weil hier der Charakter immer vor den Bege¬
benheiten vorherrschen muß. Aber das Lustspiel ist
seine eigentliche Heimath, hier herrscht der Zufall
unumschränkt über den Charakter. Die besten Lust¬
spiele, die es gibt, von Shakspeare, Gozzi, Tieck
bewegen sich in diesem wunderbaren Lande.

In der neuesten Zeit ist indeß die sentimentale
und abergläubige Behandlung des Wunderbaren die
herrschende geworden, und daraus sind unzählige
literarische Mißgeburten entsprungen. Wenn wir uns
an den Gegenständen des alten Aberglaubens jetzt
noch poetisch weiden wollen, können wir es nur, in¬
dem wir uns entweder in das naive Kindesalter zu¬
rückversetzen, oder diese Gegenstände mit Ironie und
Humor behandeln. Wenn wir aber mit aller Ernst¬

gefunden. Auch fuͤr die Satyre gegen den Aberglau
ben bietet ſich kein beſſerer Stoff dar, als das Wun¬
derbare, das man ironiſch behandelt. Schlechter¬
dings verwerflich aber iſt die unglaͤubige, ſpoͤttiſche
Behandlung echter alter Volksmaͤhrchen, wodurch ihr
ganzer Zauber verloren geht. Muſaͤus hat hierin
ſchon gefehlt, Tieck aber die beſte Manier getroffen.
Das Wunderbare iſt wie das Wirkliche ernſt und
heilig oder komiſch und profan, beides in einer hoͤ¬
hern Potenz. So hat Tieck das Heilige in tiefſin¬
nigen, ernſten, romantiſchen Schauſpielen und No¬
vellen, das Komiſche in den luſtigſten und geiſtreich¬
ſten Poſſen von der Welt behandelt. Fuͤr das Trauer¬
ſpiel eignet ſich das Wunderbare der Begebenheiten
nicht, weil hier der Charakter immer vor den Bege¬
benheiten vorherrſchen muß. Aber das Luſtſpiel iſt
ſeine eigentliche Heimath, hier herrſcht der Zufall
unumſchraͤnkt uͤber den Charakter. Die beſten Luſt¬
ſpiele, die es gibt, von Shakſpeare, Gozzi, Tieck
bewegen ſich in dieſem wunderbaren Lande.

In der neueſten Zeit iſt indeß die ſentimentale
und aberglaͤubige Behandlung des Wunderbaren die
herrſchende geworden, und daraus ſind unzaͤhlige
literariſche Mißgeburten entſprungen. Wenn wir uns
an den Gegenſtaͤnden des alten Aberglaubens jetzt
noch poetiſch weiden wollen, koͤnnen wir es nur, in¬
dem wir uns entweder in das naive Kindesalter zu¬
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[100/0110] gefunden. Auch fuͤr die Satyre gegen den Aberglau ben bietet ſich kein beſſerer Stoff dar, als das Wun¬ derbare, das man ironiſch behandelt. Schlechter¬ dings verwerflich aber iſt die unglaͤubige, ſpoͤttiſche Behandlung echter alter Volksmaͤhrchen, wodurch ihr ganzer Zauber verloren geht. Muſaͤus hat hierin ſchon gefehlt, Tieck aber die beſte Manier getroffen. Das Wunderbare iſt wie das Wirkliche ernſt und heilig oder komiſch und profan, beides in einer hoͤ¬ hern Potenz. So hat Tieck das Heilige in tiefſin¬ nigen, ernſten, romantiſchen Schauſpielen und No¬ vellen, das Komiſche in den luſtigſten und geiſtreich¬ ſten Poſſen von der Welt behandelt. Fuͤr das Trauer¬ ſpiel eignet ſich das Wunderbare der Begebenheiten nicht, weil hier der Charakter immer vor den Bege¬ benheiten vorherrſchen muß. Aber das Luſtſpiel iſt ſeine eigentliche Heimath, hier herrſcht der Zufall unumſchraͤnkt uͤber den Charakter. Die beſten Luſt¬ ſpiele, die es gibt, von Shakſpeare, Gozzi, Tieck bewegen ſich in dieſem wunderbaren Lande. In der neueſten Zeit iſt indeß die ſentimentale und aberglaͤubige Behandlung des Wunderbaren die herrſchende geworden, und daraus ſind unzaͤhlige literariſche Mißgeburten entſprungen. Wenn wir uns an den Gegenſtaͤnden des alten Aberglaubens jetzt noch poetiſch weiden wollen, koͤnnen wir es nur, in¬ dem wir uns entweder in das naive Kindesalter zu¬ ruͤckverſetzen, oder dieſe Gegenſtaͤnde mit Ironie und Humor behandeln. Wenn wir aber mit aller Ernſt¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/110>, abgerufen am 26.11.2024.