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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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fen der menschlichen Natur aufzuschließen, in denen
die Gemüthskraft ihre Wunder wirkt. Darin aber
kommen die Romantiker wieder mit den alten Tra¬
gikern überein, daß sie die menschliche Natur ideali¬
siren, oder ihren ursprünglichen Adel, ihre Unschuld,
ihre Größe, ihre Genialität darstellen.

Die dritte Gattung des Romantischen entstand
noch später erst mit der Schule Schelling's, obgleich
Jakob Böhme schon längst den Weg dazu geöffnet
hatte. Sie ist dadurch charakterisirt, daß sie das
Wunder im Weltganzen sucht, und sie geht daher
bis zur ältesten Poesie der Kosmogonien und My¬
thologien zurück. Ihr Wesen besteht in einer poeti¬
schen Ansicht des ganzen Universums. Zu den Dich¬
tern dieser Gattung dürfen die meisten Schüler Schel¬
ling's gerechnet werden, vorzüglich Görres und Stef¬
fens, obgleich man noch immer nicht anerkennen will,
daß diese den Namen von Dichtern verdienen, weil
man immer noch in dem Wahne lebt, die Poesie
dürfe sich nur mit Theilen, nie mit dem Ganzen,
nur mit dem Kleinen, nie mit dem Größten beschäf¬
tigen. Doch läßt man wenigstens den einsamen No¬
valis für einen Dichter gelten, als ob er allein diese
ganze Gattung ausfüllte.

Als eine vierte Gattung des Romantischen müs¬
sen wir noch insbesondere die katholische Poesie
unterscheiden, wie sie nach dem Vorgange Tieck's sich
auch eine Schule gebildet. Sie ist als eine Wieder¬
erweckung der echten Poesie des Mittelalters zu be¬

fen der menſchlichen Natur aufzuſchließen, in denen
die Gemuͤthskraft ihre Wunder wirkt. Darin aber
kommen die Romantiker wieder mit den alten Tra¬
gikern uͤberein, daß ſie die menſchliche Natur ideali¬
ſiren, oder ihren urſpruͤnglichen Adel, ihre Unſchuld,
ihre Groͤße, ihre Genialitaͤt darſtellen.

Die dritte Gattung des Romantiſchen entſtand
noch ſpaͤter erſt mit der Schule Schelling's, obgleich
Jakob Boͤhme ſchon laͤngſt den Weg dazu geoͤffnet
hatte. Sie iſt dadurch charakteriſirt, daß ſie das
Wunder im Weltganzen ſucht, und ſie geht daher
bis zur aͤlteſten Poeſie der Kosmogonien und My¬
thologien zuruͤck. Ihr Weſen beſteht in einer poeti¬
ſchen Anſicht des ganzen Univerſums. Zu den Dich¬
tern dieſer Gattung duͤrfen die meiſten Schuͤler Schel¬
ling's gerechnet werden, vorzuͤglich Goͤrres und Stef¬
fens, obgleich man noch immer nicht anerkennen will,
daß dieſe den Namen von Dichtern verdienen, weil
man immer noch in dem Wahne lebt, die Poeſie
duͤrfe ſich nur mit Theilen, nie mit dem Ganzen,
nur mit dem Kleinen, nie mit dem Groͤßten beſchaͤf¬
tigen. Doch laͤßt man wenigſtens den einſamen No¬
valis fuͤr einen Dichter gelten, als ob er allein dieſe
ganze Gattung ausfuͤllte.

Als eine vierte Gattung des Romantiſchen muͤſ¬
ſen wir noch insbeſondere die katholiſche Poeſie
unterſcheiden, wie ſie nach dem Vorgange Tieck's ſich
auch eine Schule gebildet. Sie iſt als eine Wieder¬
erweckung der echten Poeſie des Mittelalters zu be¬

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[96/0106] fen der menſchlichen Natur aufzuſchließen, in denen die Gemuͤthskraft ihre Wunder wirkt. Darin aber kommen die Romantiker wieder mit den alten Tra¬ gikern uͤberein, daß ſie die menſchliche Natur ideali¬ ſiren, oder ihren urſpruͤnglichen Adel, ihre Unſchuld, ihre Groͤße, ihre Genialitaͤt darſtellen. Die dritte Gattung des Romantiſchen entſtand noch ſpaͤter erſt mit der Schule Schelling's, obgleich Jakob Boͤhme ſchon laͤngſt den Weg dazu geoͤffnet hatte. Sie iſt dadurch charakteriſirt, daß ſie das Wunder im Weltganzen ſucht, und ſie geht daher bis zur aͤlteſten Poeſie der Kosmogonien und My¬ thologien zuruͤck. Ihr Weſen beſteht in einer poeti¬ ſchen Anſicht des ganzen Univerſums. Zu den Dich¬ tern dieſer Gattung duͤrfen die meiſten Schuͤler Schel¬ ling's gerechnet werden, vorzuͤglich Goͤrres und Stef¬ fens, obgleich man noch immer nicht anerkennen will, daß dieſe den Namen von Dichtern verdienen, weil man immer noch in dem Wahne lebt, die Poeſie duͤrfe ſich nur mit Theilen, nie mit dem Ganzen, nur mit dem Kleinen, nie mit dem Groͤßten beſchaͤf¬ tigen. Doch laͤßt man wenigſtens den einſamen No¬ valis fuͤr einen Dichter gelten, als ob er allein dieſe ganze Gattung ausfuͤllte. Als eine vierte Gattung des Romantiſchen muͤſ¬ ſen wir noch insbeſondere die katholiſche Poeſie unterſcheiden, wie ſie nach dem Vorgange Tieck's ſich auch eine Schule gebildet. Sie iſt als eine Wieder¬ erweckung der echten Poeſie des Mittelalters zu be¬

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/106>, abgerufen am 26.11.2024.