könnte. Nur ein Daseyn, in diesem Leben selber em¬ pfangen und genährt, könnte dazu berechtigen. Wir aber stehn fern jener Welt, und nur einzelnen Wan¬ derern gelingt es, sie wieder zu finden, aber als Fremdlinge. Wieland machte die Harmonie und Gra¬ zie, von denen das ganze griechische Leben durchdrun¬ gen war, seinem Geiste eigen. Hatte vor Wieland wohl irgend ein neuer Europäer die griechische Grazie erkannt und in sich aufgenommen? Ehedem deckte man mit dem Helm und Harnisch, später mit Perü¬ cken und Frisuren, unendlichen Westen, Manschetten und Reifröcken den herrlichen Gliederbau, die natür¬ liche Wohlgestalt. Was Winkelmann hier für die plastische Kunst, das that Wieland für die Dicht¬ kunst. Er lehrte an dem Muster der Griechen wie¬ der natürliche Schönheit anerkennen und gestalten. Aber schwerlich mochte man, wenn es auch unver¬ kennbar ist, daß er eine der vorstehendsten Seiten des griechischen Wesens aufgefaßt, doch behaupten können, er habe die Tiefe des griechischen Genius ganz durchdrungen, so wenig als die Tiefe der Ro¬ mantik. Die plastische Schönheit der griechischen Baukunst und Statuen, der Frohsinn und die Har¬ monie des griechischen Lebensgenusses, die spiegelreine Glätte der griechischen Philosophie reichten den vol¬ len Blüthenüberhang ihm über die hohe Mauer der Zeit herüber, aber nur diesen. Seine griechischen Romane entsprechen daher nur in einem Sinn dem griechischen Genius, und sind übrigens Produkte
koͤnnte. Nur ein Daſeyn, in dieſem Leben ſelber em¬ pfangen und genaͤhrt, koͤnnte dazu berechtigen. Wir aber ſtehn fern jener Welt, und nur einzelnen Wan¬ derern gelingt es, ſie wieder zu finden, aber als Fremdlinge. Wieland machte die Harmonie und Gra¬ zie, von denen das ganze griechiſche Leben durchdrun¬ gen war, ſeinem Geiſte eigen. Hatte vor Wieland wohl irgend ein neuer Europaͤer die griechiſche Grazie erkannt und in ſich aufgenommen? Ehedem deckte man mit dem Helm und Harniſch, ſpaͤter mit Peruͤ¬ cken und Friſuren, unendlichen Weſten, Manſchetten und Reifroͤcken den herrlichen Gliederbau, die natuͤr¬ liche Wohlgeſtalt. Was Winkelmann hier fuͤr die plaſtiſche Kunſt, das that Wieland fuͤr die Dicht¬ kunſt. Er lehrte an dem Muſter der Griechen wie¬ der natuͤrliche Schoͤnheit anerkennen und geſtalten. Aber ſchwerlich mochte man, wenn es auch unver¬ kennbar iſt, daß er eine der vorſtehendſten Seiten des griechiſchen Weſens aufgefaßt, doch behaupten koͤnnen, er habe die Tiefe des griechiſchen Genius ganz durchdrungen, ſo wenig als die Tiefe der Ro¬ mantik. Die plaſtiſche Schoͤnheit der griechiſchen Baukunſt und Statuen, der Frohſinn und die Har¬ monie des griechiſchen Lebensgenuſſes, die ſpiegelreine Glaͤtte der griechiſchen Philoſophie reichten den vol¬ len Bluͤthenuͤberhang ihm uͤber die hohe Mauer der Zeit heruͤber, aber nur dieſen. Seine griechiſchen Romane entſprechen daher nur in einem Sinn dem griechiſchen Genius, und ſind uͤbrigens Produkte
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koͤnnte. Nur ein Daſeyn, in dieſem Leben ſelber em¬
pfangen und genaͤhrt, koͤnnte dazu berechtigen. Wir
aber ſtehn fern jener Welt, und nur einzelnen Wan¬
derern gelingt es, ſie wieder zu finden, aber als
Fremdlinge. Wieland machte die Harmonie und Gra¬
zie, von denen das ganze griechiſche Leben durchdrun¬
gen war, ſeinem Geiſte eigen. Hatte vor Wieland
wohl irgend ein neuer Europaͤer die griechiſche Grazie
erkannt und in ſich aufgenommen? Ehedem deckte
man mit dem Helm und Harniſch, ſpaͤter mit Peruͤ¬
cken und Friſuren, unendlichen Weſten, Manſchetten
und Reifroͤcken den herrlichen Gliederbau, die natuͤr¬
liche Wohlgeſtalt. Was Winkelmann hier fuͤr die
plaſtiſche Kunſt, das that Wieland fuͤr die Dicht¬
kunſt. Er lehrte an dem Muſter der Griechen wie¬
der natuͤrliche Schoͤnheit anerkennen und geſtalten.
Aber ſchwerlich mochte man, wenn es auch unver¬
kennbar iſt, daß er eine der vorſtehendſten Seiten
des griechiſchen Weſens aufgefaßt, doch behaupten
koͤnnen, er habe die Tiefe des griechiſchen Genius
ganz durchdrungen, ſo wenig als die Tiefe der Ro¬
mantik. Die plaſtiſche Schoͤnheit der griechiſchen
Baukunſt und Statuen, der Frohſinn und die Har¬
monie des griechiſchen Lebensgenuſſes, die ſpiegelreine
Glaͤtte der griechiſchen Philoſophie reichten den vol¬
len Bluͤthenuͤberhang ihm uͤber die hohe Mauer der
Zeit heruͤber, aber nur dieſen. Seine griechiſchen
Romane entſprechen daher nur in einem Sinn dem
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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/100>, abgerufen am 27.11.2024.
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